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Aufsätze > Hermann Hesses "Narziß und Goldmund"

Einheit zweier Gegensätze -
Erkenntnisweisen in Hermann Hesses
"Narziß und Goldmund"

Von M. A. Sieber

Für J.

"Die Naturen von deiner Art, die mit den starken und zarten Sinnen, die Beseelten, die Träumer, Dichter, Liebenden, sind uns andern, uns Geistmenschen, beinahe immer überlegen. Eure Herkunft ist eine mütterliche. Ihr lebet im Vollen, euch ist die Kraft der Liebe und des Erlebenkönnens gegeben. Wir Geistigen, obwohl wir euch andere häufig zu leiten und zu regieren scheinen, leben nicht im Vollen, wir leben in der Dürre. Euch gehört die Fülle des Lebens, euch der Saft der Früchte, euch der Garten der Liebe, das schöne Land der Kunst. Eure Heimat ist die Erde, unsere die Idee. Eure Gefahr ist das Ertrinken in der Sinnenwelt, unsere das Ersticken im luftleeren Raum. Du bist Künstler, ich Denker. Du schläfst an der Brust der Mutter, ich wache in der Wüste. Mir scheint die Sonne, dir scheinen Mond und Sterne, deine Träume sind von Mädchen, meine von Knaben ..."
(Narziß zu Goldmund)

Narziß' Wahrheit, die Wahrheit seiner Existenz und seines Wesens, besteht darin, dass man die Welt nicht unbedingt am eigenen Leib erleben und erleiden muss, um ihre innere Struktur verstehen zu können. Sein Medium der Erfahrung ist das Denken, die Sprache und Schrift; sie eröffnen auch die Möglichkeit, von dem Wissen anderer zu profitieren und sich in die unterschiedlichsten imaginären Welten hineinzuversetzen. Narziß widmet sein Leben dem strengen Dienst am Geiste und der Annäherung an das Göttliche. Da er die Welt vor allem nur gedanklich zu durchdringen versucht, verkörpert er auf diese Weise die Bewusstseinswelt oder, anders gesagt, die evolutionäre Errungenschaft des subsituierenden Handelns im gedachten Raum. Dieses geistige Probehandeln bietet den Vorteil, "an Stelle seiner eigenen Haut nur das gedachte Experiment zu riskieren; die Hypothese [...] kann stellvertretend für ihren Besitzer sterben." [1]

Als Sinnbild des formal-operationalen Denkens, der Fähigkeit über theoretische Möglichkeiten nachzudenken und logische Schlussfolgerungen aus abstrakten Beziehungen herzuleiten, geht für Narziß Erfahrung in Theorie auf. Aus ihm klingt nicht nur der Optimismus der Aufklärung an, insofern der menschlichen Erkenntniskraft die Fähigkeit zugesprochen wird, sich über kurz oder lang allem Seienden geistig bemächtigen zu können. Auch der cartesianische Rationalismus, allein mit den Mitteln der Vernunft zu universellen Wahrheiten gelangen zu können, die nicht von Sinneserfahrungen ableitbar und folglich a priori sind, findet in Narziß gestalterischen Ausdruck. Er steht so für eine standortfreie Allgemeingültigkeit der Erkenntnis. Narziß bewegt sich räumlich nicht fort, sondern wartet im Kloster Mariabronn auf die Rückkehr seines Zöglings und Freundes, der seine eigene Wahrheitssuche über den aufreibenden Weg der sinnlichen Erfahrung und schöpferischen Gestaltung beschritten hat.

In Goldmund personifiziert sich die einfache Feststellung, dass derjenige, der etwas nicht am eigenen Leib erlebt und erlitten hat, es als Wissen auch nicht als solches inkorporiert. Erkenntnis beruht auf Erfahrung. Aus diesem Grund muss man, wie Nietzsche schreibt, "alles selber tun, um selber einiges zu wissen: daß heißt, man hat viel zu tun!" Während Narziß vor seinen unberührten Schachfiguren alle einzelnen Möglichkeiten gedanklich durchgeht, vollzieht Goldmund den Sprung ins Leben und verwandelt sich in die jeweilige Spielfigur. Er scheitert an Narziß’ Abstraktion, die sich vom konkreten Wirklichkeitsbezug emanzipiert und in der Weltendfremdung der Bewusstseinswelt verloren hat.

Für Goldmund muss die Sinnlichkeit der Dinge hingegen stets präsent sein. Sein Gedankenleben ist mit seinem Erfahrungsbereich eng verbunden; bei der Bildung der Begriffe muss er aus eigener Weltbegegnung beteiligt sein. Goldmund will die Erfahrung bis zum letzten Tropfen ausschöpfen und dazu muss er sich freilich auch räumlich fortbewegen. Das Aufsuchen neuer Perspektiven und Standpunkte im Denken findet so eine natürliche Entsprechung in der Erfahrung des Wanderns und Reisens. Wie Rimbaud, diesem Exilanten, diesem Knaben, der auf Eroberung ausgeht und dessen unstetes Wanderschaftsleben auch für Goldmunds Nomadentum Pate steht, umfasst er "die Dinge nicht nur gewissermaßen eindimensional, sondern läßt sie in sich mit allen ihren Qualitäten einquellen; er sieht sie nicht nur, er hört sie, schmeckt sie, riecht sie, befühlt und durchdringt sie." [2] "Nihil est in intellectu, quod non prius fuerit in sensu", heißt es bei John Locke, im Verstande ist nichts, was nicht vorher in den Sinnen war. In Goldmund spiegelt sich die Wahrheit des Sensualismus wider: Die Sinneserfahrung ist die maßgebliche Instanz für die Konstitution von Wissen; erst sie verleiht der unbeschriebenen Seele des Menschen seine kognitive Signatur.

Es steht in Hermann Hesses Roman "Narziß und Goldmund" also der väterliche Luftgeist der mütterlichen Erdseele, die Wissenschaft der Kunst, die Rationalität der Sinnlichkeit, das a priori dem a posteriori gegenüber. Zwei verschiedene Zugänge zur Wahrheit also – nur welcher ist der richtige? Ist es nun das irrende Bewusstsein oder sind es die trügerischen Sinne, in denen wir Gewissheit finden?

Auf den ersten Blick könnte man meinen, es sei Narziß, der auf seine Art schon immer Bescheid wusste [3] – immerhin war er es auch gewesen, der (in selbsternannter Funktion eines Psychagogen) Goldmund dabei geholfen hat, seine eigene Wahrheit über sich selbst zu entziffern. Aber er hat ihm nicht nur den Weg zu seiner wahren Natur gewiesen, am Ende seines ereignisreichen Lebens kehrt Goldmund zu ihm ins Kloster zurück und erstaunlicherweise sind seine gemachten Erfahrungen mit Narziß' Erkenntnissen oftmals deckungsgleich. Muss er sich Narziß gegenüber nicht so fühlen wie der Hase im Wettlauf mit dem Igel, der ihm an jeder Furche entgegenruft: "Ick bün all hier"? Aber wir alle wissen, dass der Igel geschummelt hat und über den eigentlichen Weg nichts berichten kann. Das "Ich bin schon hier" des Igels ist somit ein anderes als das des Hasen. Die Erfahrung verändert die Erkenntnis; geistig antizipierte Erfahrung allein lässt ihre kognitive Struktur jedoch weitgehend unberührt. Hat Narziß seine blutleere Wahrheit somit etwa nur ein Mal gefunden, während sich Goldmund immer wieder durch das "Wirrwarr der Sinnenwelt" zu ihr hindurchkämpfen musste?

Diese Fragen finden zum Teil eine Antwort in dem seltsamen Abhängigkeitsverhältnis, das für die Beziehung von Narziß und Goldmund charakteristisch ist: Erscheint Narziß am Anfang als "führender Geist", der über Goldmund die fast uneingeschränkte Deutungs- und Definitionsmacht besitzt, so bringt dieser dann am Ende des Romans "die Weisheit der Lebenserfahrung und die Apotheose der Kunst in das karge Leben des Freundes und stellt durch diese dankbar entgegengenommenen Gaben das Gleichgewicht wieder her." [4] Zählt Narziß einerseits zu Goldmunds Vorbild, der für ihn "die unerreichbare Sehnsucht nach dem geistigen Prinzip" [5] verkörpert, so geschieht andererseits Narziß' Reden und Wirken nur im Hinblick auf ihn: "Eine von Goldmund unabhängige Existenz hat er nicht." [6] Aber auch wenn es so viel eher sein Roman ist, die Geschichte von Goldmunds Selbstfindung und Lebensweg, bedarf es Narziß' kritischen Geistes, um seine Fehlentwicklung zu erkennen und auf den ihm gemäßen Weg zu lenken.

Anhand dieser unauflöslichen Dialektik wird deutlich, dass der literarische Entwurf von "Narziß und Goldmund" aus einem dissoziativen Prozess hervorging, der allein auf einer analytischen Ebene möglich ist. Wie die Erkenntnis notwendigerweise aus den gemachten und erlebten Erfahrungen schöpft und erst auf diese Weise zu einer sinnhaltigen Aussage wird, so kommen auch diese Erfahrungen nur über eine kognitive Vermittlung zustande (die Erfahrungsform ist schon allein geistig vermittelt und vorstrukturiert; wie es so schön bei Louis Althusser heißt: "Man kehrt niemals aus dem Denken in die Wirklichkeit zurück."). Folglich schreibt Herman Hesse im Jahr 1931 an Christoph Schrempf: "Narziß ist ebenso wenig der reine Geistesmensch wie Goldmund der reine Sinnenmensch – sonst brauchte einer den anderen nicht, sonst schwängen sie nicht beide um eine Mitte und ergänzten sich." Ganz der heraklitischen Lehre folgend, zeigt sich so an den zwei Freunden, dass die Gegensätze voneinander bedingt und ineinander verschränkt sind.

Gewiss, das Thema ist alles andere als neu. Aber dass Hesse den Widerspruch zwischen Körper und Geist, unter dem er selbst arg zu leiden hatte, in der Beziehung der beiden unterschiedlichen Figuren zu versöhnen versucht, macht "Narziß und Goldmund" immer noch zu einer der schönsten und rührendsten Freundschaftsgeschichten in der Literatur.

© TourLiteratur / Autor
Alle Rechte vorbehalten
Publiziert am 2. März 2012

Cover oben:
Hermann Hesse: Narziß und Goldmund. Erzählung. Text und Kommentar. Mit einem Kommentar von Heribert Kuhn. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2003. (= Suhrkamp BasisBibliothek. 40.)
Cover unten:
Birgit Lahann: Hermann Hesse. Dichter für die Jugend der Welt. Ein Lebensbild. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2002. (= suhrkamp taschenbuch. 3478.)
Copyright: Suhrkamp Verlag, Berlin

Anmerkungen

[1] Rupert Riedl: Die Folgen des Ursachendenkens. In: Paul Watzlawick (Hrsg.): Die erfundene Wirklichkeit. Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben? Beiträge zum Konstruktivismus. 10. Aufl. München 1998, S. 67 - 90, hier: S. 74. [zurück]

[2] Stefan Zweig: Geleitwort. In: Arthur Rimbaud. Gedichte. Frankfurt am Main/Leipzig 1954, S. 59 - 69, hier: S. 64. [zurück]

[3] Die superbia ist so auch das einzige Laster, dem Narziß im Geheimen frönt. [zurück]

[4] Egon Schwarz: Narziß und Goldmund. In: Interpretationen. Hermann Hesse: Romane. Stuttgart 1994, S. 113 - 131, hier: S. 128. [zurück]

[5] Eugen Drewermann: Das Individuelle gegen das Normierte verteidigen. Zwei Aufsätze zu Hermann Hesse. Frankfurt am Main 1995, S. 69. [zurück]

[6] Egon Schwarz: Narziß und Goldmund. In: Interpretationen. Hermann Hesse: Romane. Stuttgart 1994, S. 113 - 131, hier: S. 129. [zurück]

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