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Rezensionen > Brussig, Thomas: Wie es leuchtet

Als die Blinden sehen wollten
oder Das kommt dem großen Wenderoman schon ziemlich nah

Thomas Brussig: Wie es leuchtet. Roman.
Frankfurt/Main: S. Fischer Verlag 2004.
ISBN 3-10-009580-4
672 Seiten
EURO 19,90

Ich bin ein gro�er Fan von Thomas Brussig. Gleich als vor nunmehr rund zehn Jahren "Helden wie wir" erschien, hat es mich gepackt. Zumal ich mich etwa zur selben Zeit durch Grassens Gro�roman "Ein weites Feld" qu�lte. Sieh mal an, dachte ich, beide Romane haben in etwa das gleiche Thema, doch welch ein Unterschied: hier die �ngste eines alten Herrn, da die Forschheit der Jugend. Wobei ich unter Forschheit nat�rlich auch die literarische Forschheit verstand. Nur dass die Ostikone Christa Wolf bei dem 1965 in Berlin Geborenen so schlecht wegkam, dass der Romanheld sie andauernd verwechselt mit der Eislauftrainerin Jutta M�ller aus Karl-Marx-Stadt vulgo Chemnitz, leuchtete mir damals nicht so ein. Inzwischen habe ich auch das begriffen.

Danach war ich jedenfalls Brussig-s�chtig. Doch der mit seinen Texten dealende Verlag hielt sich vornehm zur�ck. Inzwischen ist ein zweiter Verlag an die Stelle des ersten getreten. Allein auch er wartet nur alle paar Jahre mit frischem Stoff auf. Und dieser Stoff war mir - sagen wir es ehrlich und frei heraus - in der Regel zu knapp bemessen. Der Fu�ball-Monolog "Leben bis M�nner": knappe 90 Seiten, nur die H�lfte jeder Seite �berhaupt bedruckt und was f�r ein Titel. Das Buch zum Film "Am k�rzeren Ende der Sonnenallee": voller neckischer Anekdoten, versehen mit einem grandiosen Schluss, aber der kommt leider schon auf Seite 157, wenn man sich grad eingelesen hat und das Fieber steigt.

Man kann sich vorstellen, was in mir vorging, als ich von Brussigs neuem Roman h�rte. Mehr als 600 Seiten! Ein ganz gro�es Wende-Panorama! Erinnernd an die "Helden" und zugleich weit �ber deren engen Horizont hinausgehend! Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung! Brussig at his best! Ich war echt aufgekratzt. Am Tage des Erscheinens des dickleibigen Bandes in Deutschlands Buchl�den, einem ordentlich langweiligen Fr�hherbsttag mit noch angenehmen Temperaturen, machte ich mich schon fr�hmorgens auf, um mich in die Schlange der Brussig-J�nger zu stellen, ich gestehe sogar, dass ich in den Wochen davor die Veranstaltungshinweise der Zeitungen genauer denn je las, war ich doch gefasst auf eine "Lange Thomas-Brussig-Nacht" in allen Hugendubel-Filialen des Ostens, wo Systemgegner und Systemprofitanten, angetan mit FDJ-Hemden, gemeinsam aus dem Roman lesen w�rden, dessen erste Exemplare Punkt Mitternacht dann �ber den Ladentisch wechselten. Aber denkste! Es gab weder eine "Lange Thomas-Brussig-Nacht" noch eine Schlange vor der Buchhandlung meines Herzens. Ich hatte mir umsonst einen kleinen Bei�vorrat ins T�schchen getan, denn nach f�nf Minuten war ich aus der Literatur-Verteilstelle wieder 'raus und eine halbe Stunde sp�ter schlug ich bereits den Band auf und las seinen ersten Satz: "Alles. Was ich �ber diese Zeit wei�, wei� ich von deinen Bildern, sagte Lena."

Nun gut. Lange Zeit bin ich fr�h schlafen gegangen war das nicht. Und es war auch nicht das legend�re Stattlich und feist erschien Buck Mulligan amTreppenaustritt, ein Seifenbecken in H�nden, auf dem gekreuzt ein Spiegel und ein Rasiermesser lagen (hier in der �bersetzung von Hans Wollschl�ger). Aber es ging ein bisschen in diese Richtung. Es war kein �berladener Er�ffnungssatz mehr, wie er etwa in "Helden wie wir" benutzt wird, wobei der Autor - wissentlich oder unwissentlich - das Risiko eingeht, von Lesern, die es einfach, schlicht und informativ haben wollen, gleich zu Beginn verlassen zu werden. Nein, es ging dahin, wohin das ganze Buch erkennbar dr�ngt: ins gro�e Ganze bzw. ganz Gro�e. Hier war er wirklich angepeilt: DER Roman zur Wende, nach dem sie schon in den fr�hen 90ern schrien, ohne dass jemand sie erh�rte. Den Grass geliefert zu haben glaubte, als die 90er zur H�lfte vorbei waren, wobei die Betonung auf glaubte liegt. Und an dem f�r mich bis heute einzig und allein die Herren Hilbig und Jirgl ein paar Aktien haben, Hilbig mit dem "Provisorium" (2000), Jirgl mit "Hundsn�chte" (1997). Aber vergleichbar mit "Wie es leuchtet" sind deren B�cher beide nicht, so herbstlich eingedunkelt wie sie daherkommen.

Also gelungen? Naja. Im Grunde ist, wenn - wie wir eingangs beklagten - Brussigs letzte B�cher zu kurz waren, dieses hinwieder zu lang. So leid es mir tut, ich muss mit Marcel Reich-Ranicki gestehen, dass mich w�hrend der Lekt�re nicht nur einmal ein Hauch von Langeweile anflog. Allein Langeweile ist - auch das wissen wir seit Reich-Ranicki und den Rittern und Freifrauen seiner Schwafelrunde - per se kein �sthetisches Kriterium. Sagen wir es also anders.

In dem Verlangen, die Wendezeit zwischen dem Sommer 1989 und dem Herbst 1990 so fa�ettenreich, genau und witzig wie m�glich einzufangen, wuchert des Autors Stoff so aus, dass allein des Rezensenten Papier, auf dem er sich wichtige Personen zu notieren anschickte, schon nach der H�lfte des Romans schier �berfloss. Gestalten der Zeitgeschichte, die unter ihrem richtigen Namen firmieren, solche, die einen falschen (manchmal aber deutlich sprechenden) tragen, der ihre Identit�t nur unvollkommen verbirgt, und schlie�lich frei erfundene (die, wie immer in der Kunst, die besten sind) z�hlen letzten Endes in die Hunderte und diese Geschwader von Geschichtsbetroffenen und Geschichtsbesoffenen immer im Auge zu behalten, f�llt schwer. So schwer, dass dem Rezensenten des SPIEGEL der hier und da auftauchende "kleine Dichter" zur Chiffre f�r den gro�en Heiner M�ller gefror, wo doch erkennbar (S. 583 werden die Eingangszeilen des sicher ber�hmtesten Wendegedichts "Das Eigentum" eben dieser Gestalt in den Mund gelegt) Volker Braun gemeint ist. So schwer, dass man st�ndig hin und her bl�ttern muss, um die Feinstruktur der vielen Geschichten, die, miteinander vernetzt, eben das Wendepanorama erzeugen sollen, zu verfolgen. Weniger w�re hier sicher mehr gewesen. Aber Brussig ist auf ALLES aus. J�rgen Fuchs muss rein und Gregor Gysi (letzterer als Frau namens Gisela Blank!). Schalck-Golodkowski darf genausowenig fehlen wie SPIEGEL-Korrespondent Matthias Matussek (der sich in oben angesprochener Rezension selbst als ostkorrespondierender West-Sch�nling geoutet hat: Spieglein, Spieglein an der Wand!). Betriebsversammlungen in der Ehemaligen werden genauso protokolliert, wie die Rituale der ersten freien Wahlen in der Noch-DDR, der Geldumtausch und die ersten Trips (die nach der Rechtschreibreform, wie ich f�rchte, auch mit Doppel-P geschrieben werden) nach Malle zum Br�unen.

Das ist manchmal wunderbar, manchmal aber auch �berfl�ssig. Halten wir uns mit Letzterem nicht weiter auf, sondern lenken den Blick abschlie�end noch auf ein paar Highlights des Romans. Denn da der als Ganzschrift ins Texte-Arsenal der meisten Deutschlehrer hierzulande kaum Eingang finden d�rfte, sei denen (sie liegen mir immer besonders am Herzen) empfohlen, was sich leicht aus ihm zu h�herem Nutzen, Belehrung und gro�em Spa� herausl�sen l�sst. Pars pro toto sozusagen.

Da gibt es zum Beispiel eine herrliche Szene im Dezemberfrost 1989 am Brandenburger Tor (S. 334 f.). Pl�tzlich erscheinen einer der Hauptfiguren des Romans mitten im kalten Berlin in Gestalt von drei Stra�enmusikern die Rockheroen Crosby, Stills und Nash. Neil Young haben sie nicht dabei. Aber auch so ist der (halluzinierte) Eindruck �berw�ltigend. Doch auf die frierenden Menschen ringsum f�rbt er nicht ab. Sie alle, denkt Brussigs Figur, m�ssten sich von der Musik hinrei�en lassen zu einem einzigartigen Friedensbekenntnis. Aber man wendet sich weg und geht weiter seinen Tagesgesch�ften nach.

Genau diese kleinen, fast vision�r anmutenden Einsch�be sind es, die den Roman f�r mich als Ganzes herausrei�en und ihn letzten Endes wirklich beinahe zu jener epochalen Zusammenschau machen, die er - h�ufig leider viel zu krampfhaft und starr - von Anfang an zu sein sich m�ht. Da wo Brussig nicht doziert und historisches Geschehen ehrfurchtsvoll nachbildet, da wo er sich aufs Erz�hlen kleiner und kleinster Geschichten verl�sst, ist er - wie immer - am besten. Wenige deutsche Autoren verstehen sich so wie er auf den Einsatz des Dialekts. Noch weniger k�nnen Situationen von einem Augenblick auf den anderen komplett ins Absurd-Komische umschlagen lassen, ohne dass der Leser sich dadurch gest�rt f�hlte. Und eine Liebesszene wie jene auf Seite 426 f. habe ich ehrlich gesagt in den letzten zehn Jahren von keinem deutschsprachigen Schriftsteller mehr lesen d�rfen. Respekt!

H�hepunkt und parabelhafter Kern des Romans ist aber zweifellos die Geschichte, die Brussig seinen die Wendeereignisse kritisch begleitenden Journalisten Leo Lattke finden und f�r das ihn bezahlende, gro�e Hamburger Nachrichtenmagazin niederschreiben l�sst. Sie handelt von einer Blinden aus Ostdeutschland, der kurz nach der Wende das Augenlicht wiedergegeben wird. Endlich kann sie nun sehen, was andere meinen, wenn sie Wahnsinn rufen oder So ein Tag, so wundersch�n wie heute singen. Und vorerst genie�t sie auch die Farbexplosionen, die auf sie einst�rzen. Letzten Endes aber findet sie keine Beziehung mehr zu ihnen und aus der Gl�cks- wird schnell eine Ungl�cksgeschichte, weil die Figur zu den alten Ufern ihrer Sinnesgewi�heiten nicht zur�ckfinden kann, aber auch die versprochenen neuen Gestade nicht erreicht.

Nat�rlich wird die Geschichte von dem gro�en Nachrichtenmagazin nicht gedruckt. Und der Journalist darf fortan seine zeitgen�ssischen Eindr�cke im fernen Amerika sammeln, was einer Nobilitation n�her kommt denn einer Strafversetzung. Platziert im hinteren Teil des Romans und auch durch das Schriftbild deutlich abgehoben, findet man hier aber den Kern eines deutsch-deutschen Geschichtsromans, der, wenn er die Zeit der Wende wiederauferstehen l�sst, schon in der Euphorie des Beginnens die M�hen der Zukunft, in der wir alle heute stecken, herausschmeckt und vorausahnt.

Dietmar Jacobsen

© TourLiteratur / Autor
Alle Rechte vorbehalten

Homepage des Autors Dietmar Jacobsen:
www.text-und-web.de

Buchcover: © S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main

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