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Rezensionen > Irving, John: Bis ich dich finde

David Copperfield als film noir
John Irvings "Bis ich dich finde"

John Irving: Bis ich dich finde. Roman.
Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren und Nikolaus Stingl.
Zürich: Diogenes Verlag 2006.
ISBN 3-257-06522-1
1152 Seiten, EURO 24,90

Die Ungeduld der Medien war allenthalben sp�rbar: Seit dem Sommer letzten Jahres, als Until I find you, Irvings elfter Roman, in den USA erschien, wartete man hierzulande neugierig auf das Erscheinen der deutschen Fassung. W�hrend die zwei �bersetzer (Dirk van Gunsteren und Nikolaus Stingl) sich in den letzten sechs Monaten �ber Freizeit�berschuss sicherlich nicht beklagen konnten, da sie weit �ber tausend Seiten ins Deutsche zu �bertragen hatten, vertrieben sich die Journalisten der literarischen Feuilletons, allen voran die Journalistinnen der lesef�rdernden Zeitschrift Brigitte, die Wartezeit mit Reisen nach Vermont, wo der Schriftsteller bereitwillig und wiederholt Auskunft �ber Leben und Werk gab. Daher konnten wir in den letzten Wochen schon allerlei �ber den neuen Irving erfahren, so viel, dass wir schon fast bef�rchten mussten, das Buch habe es n�tig.

Nun ist er da: Schwergewichtig liegt er in der Hand und auf der R�ckseite ist zu lesen, die New York Times betrachte den Roman als Irvings Opus maximum. Dass diese Einsch�tzung zumindest in quantitativem Sinne zutreffend ist, ist nicht zu �bersehen. Dass es, wie aus Interviews und Berichten hervorgeht, bei diesem Roman mehr als bei seinen Vorg�ngern - "Autobiographie ist's immer" titelte die Welt am 14. Januar 2006 - um die Verarbeitung von Irvings eigener Geschichte geht, wird auch schnell deutlich: Bereits das vorangestellte Zitat von William Maxwell �ber das Erz�hlen von Erinnerungen weist darauf hin; wie treffend dieses Zitat ist, erweist sich freilich erst im Laufe der Erz�hlung selbst.

John Blunt - so hie� der Schriftsteller, bevor er den Familiennamen seines Adoptivvaters Colin Irving bekam - wird Jack Burns. Wie der Autor kennt der Protagonist seinen leiblichen Vater zun�chst nicht und erf�hrt eine von Frauen gepr�gte Kindheit und Sozialisation. Wie der Autor muss der kaum in der Pubert�t befindliche Jack sexuellen Missbrauch durch eine erwachsene Bekannte der Familie ertragen. Wie der Autor wird der Protagonist K�nstler, und die Inspiration zu dieser Karriere kommt vom abwesenden Vater. Ihm, so sagte Irving der Academy of Achievement (http://www.achievement.org/autodoc/page/irv0int-1), verdanke er die f�r das kreative Schreiben notwendige Phantasie, denn da er kaum Informationen �ber ihn hatte, hat er sich ihn fortw�hrend ausgemalt. Jack Burns malt sich aus, sein Vater schaue bei den Schultheaterauff�hrungen zu, und dieses "Einmannpublikum" legt den Grundstein zu seinem Erfolg als Schauspieler. Als sie ber�hmt sind, hoffen beide, John und Jack, der Vater werde Kontakt zu ihnen aufnehmen. Beide hoffen vergeblich, lernen aber schlie�lich Halbgeschwister kennen. Und von seinem Halbbruder erf�hrt John, dass sein realer Vater tats�chlich �hnlichkeit mit Jacks fiktivem Vater hat, wohlgemerkt nachdem er dessen Geschichte imaginiert hatte.

Neben all den autobiographischen Anleihen aus der Realit�t gibt es aber auch reichlich Irving'sche Fiktion. Skurrile Gestalten aus unterschiedlichsten Milieus (T�towierer, Organisten, Prostituierte, Lehrer oder B-Filmer) und Situationen makabrer Komik in Geschichten, die eigentlich sehr traurig sind. Verschiedenste Besessenheiten, die einmal mehr polarisieren werden (Irving sagte einmal, er wisse durchaus, dass es Leute gebe, denen das Wort Penis bei ihm zu h�ufig vorkomme. Dessen Frequenz nimmt im vorliegenden Roman zum Ende hin ab, das sei zur Vers�hnung gesagt.). Epische Sorgfalt des 19. Jahrhunderts einerseits (Irving sieht sich in der Tradition von Dickens, der seine Kindheit bekanntlich ebenfalls literarisch verarbeitete) und rotzige Pr�gnanz andererseits.

Was fehlt, sind Gef�hle. Irvings Sympathie f�r seine verr�ckten Gestalten und ihr eigent�mliches Leben, sein Talent, dieser merkw�rdigen Welt noch etwas Liebevolles abzugewinnen, das h�lt er hier zur�ck. Seltsam k�hl und distanziert kommen viele Episoden daher, Jack wirkt - nicht nur auf andere Figuren - wie aus einem film noir, auch Jacks Innensicht ist sehr beschr�nkt, so dass ein Irving zum ersten Mal lang wird, und gewisse Wendungen - Jacks charakterliche Ver�nderungen w�hrend seiner Schullaufbahn, sein Verhalten gegen�ber Freundinnen beispielsweise - unverst�ndlich bleiben. In diesem Erz�hler, der ein personaler Erz�hler sein soll und urspr�nglich sogar in der 1. Person stand, liegt eine Schwierigkeit des Romans: Zu viel Au�ensicht, Distanz und auktoriale Unterbrechungen verhindern Identifikation und Sympathie mit dem Protagonisten und seiner Geschichte. Verst�ndlicherweise wollte der Autor sich selbst durch das Schreiben Distanz zur Geschichte verschaffen, daher vielleicht auch der sehr sp�te Wechsel (das Manuskript war schon beim Verleger) von der 1. in die 3. Person. Doch dem Leser k�me mehr N�he entgegen.

Dennoch: Nach mehreren hundert Seiten zeigen Irvings Ringerkunstgriffe Wirkung. Wie der Drehbuchautor, dessen Gesicht Jack Burns in eine Paella zwingt ("ein mit saffrangelbem Reis �berzogener Shrimp flutschte vom Teller, desgleichen ein St�ck Wurst"), kann man sich nicht mehr befreien. Sp�testens, wenn Jack Burns zu seiner zweiten Europareise aufbricht, nimmt die Geschichte eine Wendung, die gebannt weiterlesen l�sst. Und das Spiel mit Fiktion und Realit�t wird doppelb�dig: Einer der H�hepunkte der Geschichte ist zweifellos die Oscarverleihung des Jahres 2000, auf der Jack Burns nicht f�r eine Rolle, sondern f�r ein Drehbuch ausgezeichnet wird. Er bekommt also Irvings realen Oscar, den der Autor f�r das Drehbuch von Gottes Werk und Teufels Beitrag bekam. Jack sieht auch, wie Michael Caine f�r die beste Nebenrolle (wir wissen, dass es ebenfalls um Gottes Werk und Teufels Beitrag geht) ausgezeichnet wird. Der Newsweek sagte Irving, er habe mit der Fiktion niemandem seinen realen Oscar streitig machen wollen, daher musste Jack seinen bekommen (http://msnbc.msn.com/id/8526322/site/newsweek). Aber besser noch als diese Raffinesse ist die auf die Verleihung folgende Begegnung mit Arnold Schwarzenegger, ein Kleinod schr�ger Situationskomik.

Sicherlich ist Bis ich dich finde kein typischer Irving, das erkl�rt auch Irvings ungew�hnlich intensive �ffentlichkeitsarbeit f�r dieses Buch (Irving ist auch auf Lesereise in Deutschland: am 20.2.06 im Berliner Ensemble, am 22.2.06 im Schauspielhaus in Hamburg). Aber es ist ein gro�es Buch, das vom erz�hlerischen K�nnen Irvings zeugt. Und es ist ein sehr pers�nliches Buch, dem man schlie�lich alle vermeintlichen Schw�chen nachsieht.

Friderike Beyer

© TourLiteratur / Autorin
Alle Rechte vorbehalten

Buchcover: © Diogenes Verlag, Zürich

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