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Rezensionen > Schlaffer, Heinz: Die kurze Geschichte der deutschen Literatur

"Minima Banalia" oder essayistisches Meisterwerk?
Heinz Schlaffer provoziert mit seiner "kurzen Geschichte der deutschen Literatur" die Germanistenzunft - Eine Presseschau

Heinz Schlaffer: Die kurze Geschichte der deutschen Literatur
München: Hanser Verlag 2002
176 Seiten
EURO 12,90

Kleines Buch, große Debatte: Heinz Schlaffer, 62, Germanistikprofessor in Stuttgart, bringt das Kunststück zustande, eine deutsche Literaturgeschichte auf deutlich weniger als 200 Seiten zu präsentieren. Dabei lässt er sich von der Frage leiten, was eigentlich spezifisch "deutsch" an der deutschen Literatur sei und ob der scheinbar unverrückbare literarhistorische Kanon den tatsächlichen Leistungen deutscher Schreibkunst gerecht werde. Seine Ergebnisse sind ebenso überraschend wie erschütternd: Vor Goethe und nach 1950 hat es so etwas wie eine deutsche Literatur nicht gegeben, zumindest nicht auf einem erwähnenswerten Niveau. "Latenz" und "Stagnation" - mehr nicht, jahrhundertealte literarische Tradition: eine bloße Illusion. Selbst Dichter wie Heine, Mörike und Stifter sind nicht jene hellstrahlenden Heroen, zu denen sie von einer übereifrigen Germanistik erkoren wurden. Eine deutsche "Nationalliteratur" gibt es nicht, sie ist nur eine Erfindung der "Nationalphilologie". Im Vergleich zu den europäischen Literaturen zeigt sich die deutsche Literatur in thematischer und stilistischer Hinsicht als "verspätet", die wenigen großen Werke, die es außerhalb der tatsächlichen Blütezeit gegeben hat, wurden kaum rezipiert, ihr Einfluss war denkbar gering. Für das Erscheinen der deutschen Literatur auf der literarhistorischen Bildfläche in der Zeit von 1770 bis 1830 zeichneten protestantisch-pietistische Kulturmächte verantwortlich, während sich die zweite - und letzte - Hochphase (1900 bis zum Tod Thomas Manns) aus katholischen und jüdischen Quellen speise. Die Philologie, so Schlaffer, habe sich seit Jahrzehnten unnötigerweise damit beschäftigt, immer mehr Texte von immer mehr Autoren zur Verfügung zu stellen, während sie den Leser völlig vernachlässigt habe. "Viel wird geforscht, wenig gelesen." Wenn es derart der eigenen Legitimation, sprich: Daseinsberechtigung an den Kragen geht, kann es nicht verwundern, dass die Philologenzunft prompt und heftig reagiert, gilt es doch, das mühsam eroberte, von jeher stolz verteidigte und dennoch kaum wahrgenommene Terrain mit allen Mitteln gegen den "Einmann-Abbruchunternehmer" Schlaffer (Der Spiegel Nr.9/2002) zu verteidigen.

Geradezu euphorisch begrüßt Ulrich Raulff in der "Süddeutschen Zeitung" (26. Februar 2002) das Erscheinen des Buches, das mit den "staubtrocken und urteilsschwach" gewordenen historisch-philologischen Disziplinen erbarmungslos ins Gericht gehe. "Wann ist zum letzten Mal so kenntnisreich und klar, mit derart federnder Eleganz Literaturgeschichte geschrieben worden?" Nur Helmuth Plessners "Die verspätete Nation" kommt ihm in den Sinn, dessen Essayform Schlaffer "glanzvoll" wiederbelebe. Seine Neigung zum "Normativen" lasse Schlaffer zwar fruchtbare Einflüsse anderer Medien (Film) und der Humanwissenschaften (Freud, Weber) auf die Literatur außerhalb des von ihm eng gesteckten Toleranzbereiches übersehen. Diese "partielle Blindheit" ändere jedoch nichts an der "inspirativen Kraft", die Schlaffer "hochmütig und angriffslustig", raffiniert und von "fein zarter Empirie genährt" freisetze. Raulff zeigt sich zuversichtlich, dass die kleine Schrift dazu beitragen wird, den "antiquarischen Geist" aus der Germanistik zu vertreiben und womöglich auch auf andere Disziplinen (Geschichtswissenschaft, Philosophie) befreiend wirken wird.

Die sprachliche Brillanz des Essays ist auch für andere Rezensenten unbestritten (Cord Backhaus in der ZEIT vom 21. März, Hans-Jürgen Schings in der FAZ vom 19. März). Andere, wie der Schriftsteller Martin Mosebach (in der Süddeutschen Zeitung vom 5. März 2002), bemängeln besonders den destruktiv-denunziatorischen Duktus des Buches, den Mosebach aus einem Zustand tiefer "Frustration als Germanist", in dem sich Schlaffer offenbar befinde, erklärt. Schlaffer vertrete "eine solche Fülle fragwürdiger Thesen, dass es nicht möglich ist, auch nur auf die Hälfte davon einzugehen". So ignoriere Schlaffer hartnäckig längst bekannte Forschungsergebnisse und wiederhole trotzig alte Vorurteile, etwa wenn er im Zusammenhang mit der Barockliteratur von "leerem Formalismus" und "gestelzter Unnatur" spreche. Besonders ärgerlich sei, dass wichtige impulsgebende Autoren gar nicht erst erwähnt werden, Johann Georg Hamann etwa, die Brüder Grimm, Johann Peter Hebel, die gesamte lateinische Dichtungstradition, Schopenhauer und Nietzsche, Heimito von Doderer. Wenn man sich, wie Schlaffer es tue, zur "radikalen Aufklärung" bekenne, müsse man sich vergegenwärtigen, dass in der Literarhistorie "ausschließlich Geister zweiten Ranges" einer solchen Aufklärung zuzurechnen seien.

Kurt Wölfel (Süddeutsche Zeitung, 12. März 2002) setzt zu einer Verteidigung des so Gescholtenen an und begrüßt den "emphatischen Dichtungsbegriff", dem Schlaffer konsequent das Wort rede. Indem er, entgegen den herrschenden Tendenzen, "Literaturgeschichte als Dichtungsgeschichte" vorstelle, bewirke er einen "innovativen Schub" für seine Disziplin und nicht zuletzt ein neues Nachdenken über das problematisch gewordene Verhältnis zwischen "akademischem Bildungswissen" und "Lebenswelt". Die von der Philologie propagierte Lückenlosigkeit der deutschen Literaturtradition sei, wie Schlaffer betone, in der Tat ein Vorstellungskonstrukt, das den wirklichen Verhältnissen nicht gerecht werde. Diskontinuität, fortgesetzte Abbrüche literarischer Entwicklung, Suspendierung aus dem allgemeinen kulturellen Gedächtnis - auch für Wölfel sind dies Charaktermerkmale deutscher Literaturgeschichte.

Der Luchterhand-Lektor Klaus Siblewski kritisiert in der Berliner "TAZ" (10. April 2002) Schlaffers "antiquierte Art, über Literatur nachzudenken": Sein Schreibstil passe "zu einer Literatur, die glücklicherweise verabschiedet" sei, womit Siblewski die "Postavantgardisten" der siebziger Jahre meint. Auffallend sei, dass Schlaffer nur sehr wenig von "Literatur" im eigentlichen Sinne schreibe und das Gewicht fast ausschließlich auf philosophische und religiöse Bedingtheiten jener Literatur lege. Vehement richtet er sich gegen Schlaffers Einschätzung, deutsche Literatur habe vor allem deswegen versagt, weil sie sich aufgrund fehlender Tradition immer wieder zu neuen Anfängen aufmachen musste und zumeist in diesen Anfängen steckengeblieben sei. Was Schlaffer als Mangel identifiziert, ist für Siblewski gerade die Stärke der Literatur: "Denn in nichts anderem als genau in der Suche nach neuen Anfängen sollte ein Prinzip des Schreibens gesehen werden."

Hanno Helbling (in der Neuen Zürcher Zeitung vom 14. März 2002) betont mit Schlaffer den fiktionalen Charakter jeder Literaturgeschichte, die dem textlichen Nacheinander einen nachträglichen "Sinnzusammenhang" zuweisen möchte. "Polemisch und beneidenswert brillant" vermische Schlaffer allerdings zuweilen die Bezugsebenen, wenn er vom Widerspruch zwischen Kontinuitätsdenken auf der einen, Rezeptionsdefizite, oder besser: -verweigerung auf der anderen, der Leserseite spreche. Es gelte vielmehr zwischen dem Einfluss von Dichtung auf Dichter und von Dichtung auf Leser zu unterscheiden. Auch Dichtung, die nicht oder kaum gelesen wurde und werde, könne sich letztlich durchsetzen. Probleme bekomme Schlaffer auch da, wo er die katholisch-jüdische Prägung der Literatur nach 1900 hervorhebe. Auf Autoren wie Thomas Mann oder Hermann Hesse lasse sich diese These nicht anwenden.

Die überzeugendste Auseinandersetzung gelingt Jochen Hörisch, Professor für Neuere Germanistik und Medienanalyse in Mannheim. Schlaffer, so Hörisch in der Zeitschrift "Literaturen" (05 II/2002), reihe lediglich triviale Erkenntnisse aneinander: "Wer braucht Thesen, denen alle zustimmen?" In diesem Sinne sei das schmale Buch sogar zu lange geraten. Insbesondere wirft er dem Kollegen eine "Aktualitäts-Verweigerung" vor, die lediglich den "faulen Ungeistern" das Wort rede, die sich nicht die Mühe machten, die deutsche Gegenwartsliteratur wahrzunehmen. Schlaffer beweise somit eine auffallend unerfreuliche Affinität zur populistischen Mainstream-Mentalität, wie sie beispielsweise von Marcel Reich-Ranicki und dessen "tertiär-analphabetischen Verdikten gegen die Nachkriegsliteratur" geprägt worden sei. Auch Schlaffers These von der "Weltlosigkeit" der deutschen Literatur trifft bei Hörisch auf entschiedenen Widerspruch. Gerade in Höchstleistungen deutscher Literaturproduktion (Lessings "Nathan" etwa, Goethes "Faust", Thomas Manns "Buddenbrooks" oder Brechts "Dreigroschenoper") offenbare sich nachhaltig eine beeindruckende Anschlussfähigkeit der Texte an die sie umgebende Daseinswirklichkeit. Die spezifische Leistungsfähigkeit von Literatur, ihre "genuine Erkenntnisleistung", liegt nach Hörisch in ihrer Eigenart, "alternative Realtätsversionen" bereitzustellen. Dieser Umstand sei Schlaffer völlig entgangen, der im Grunde die Probleme seiner Disziplin zu Problemen ihres Gegenstandes, eben der Literatur, stilisiere. Literaturwissenschaft, so das Credo des Rezensenten, müsse "endlich lernen, die relevanten Fragen zu stellen. Und sie muss lesen lernen - wirklich lesen lernen".

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Buchcover: © Hanser Verlag, München

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