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Rezensionen > Sorokin, Vladimir: Ljod. Das Eis

Copyright: Berlin Verlag, BerlinRussische Seele, eisgek�hlt
Vladimir Sorokins Roman "Ljod. Das Eis"

Vladimir Sorokin: Ljod. Das Eis. Roman.
Aus dem Russischen von Andreas Tretner.
Berlin: Berlin Verlag 2003.
ISBN 3-8270-0493-4
350 Seiten
EURO 22,00


Blond und blau�ugig sind sie - die T�ter und ihre Opfer. Die J�nger eines mysteri�sen Geheimbundes ziehen durchs heutige Russland, um "lebendige" Herzen aufzusp�ren. Freiheit, Gl�ck und Aufrichtigkeit haben sie auf ihre Fahnen geschrieben - und sie gehen daf�r �ber Leichen. Scheinbar wahllos werden Menschen gekidnappt, deren Brustk�rbe so lange mit einem magischen Eishammer bearbeitet werden, bis ihre Herzen zu "sprechen" beginnen. Das Eis, Ljod genannt, stammt von einem sagenumwobenen Meteoriten aus Sibirien - Zeuge einer besseren Welt, durchflutet vom reinen, kosmischen Licht. Wer die grausame Prozedur �berlebt, geh�rt zu den Auserw�hlten, denen ein h�heres Leben im Licht verg�nnt ist. Doch das sind die wenigsten. Die Erleuchteten stammen aus allen Schichten, skrupellose Gesch�ftsm�nner mit Mafia-Verbindungen geh�ren ebenso dazu wie ehrlose Huren oder arbeitslose Jugendliche der Null-Bock-Generation. Allen, deren Herzen "aufgeklopft" wurden, er�ffnet sich ein Leben in Friede und Stille, fern jeder Gewalt, fern auch allen irdisch-k�rperlichen Gen�ssen. Doch keine Ideologie kommt auf die Dauer ohne Marketing aus: Am Ende wird Ljod von einem Gro�unternehmen gleichen Namens als Wellness-Paket unter die Menschheit gebracht. Das Heiligtum ist zur Massenware verkommen.

So absurd und surreal das alles anmuten mag: Sorokin erz�hlt von nichts anderem als dem allt�glichen Wahn des russischen Alltags, von den eingefrorenen Emotionen, den zerst�rten Lebensentw�rfen, den ersch�pften Reservaten der Humanit�t. Und er tut es mit erz�hlerischer Bravour. Wie schon sein 1984 entstandener, 1999 auf Deutsch erschienener Erstlingsroman "Norma" ist "Ljod. Das Eis" in vier Teile gegliedert, die unterschiedlicher nicht sein k�nnten. Action-Krimi und Science-Fiction-Farce, lyrischer Hymnus und bissige Gesellschaftssatire auf Wahrheitssehnsucht und kommerzialisierte Gl�ckssuche - Sorokin spielt virtuos mit literarischen Genres und Stilebenen, zieht alle Register seines reichhaltigen sprachlichen Repertoires. Mal zart-poetisch, mal gnadenlos vulg�r: geradezu atemlos jagen die S�tze dahin, transportieren Spannung und aberwitzige Komik. Das irritiert. Und es fasziniert zugleich.

Vladimir Sorokin, Jahrgang 1955, geh�rt mit Viktor Jerofejew, Dmitri Prigow und Boris Akunin zu den Stars der gegenw�rtigen russischen Literaturszene - und zu den meist gehassten Autoren des Landes. Pornografischer Traditionszertr�mmerer, schreibender Lustmolch, der sich mit Wonne an den Ikonen der russsischen Kultur vergreife, ein Fall f�r die Psychiatrie und weniger f�r die ernsthafte Literaturkritik - russische Neo-Nationalisten, Alt-Bolschewisten, aber auch Putin-nahe Organisationen sind sich auf erschreckende Weise einig.

Sorokin versteht es in der Tat wie kaum ein anderer, seine Leserschaft zu provozieren. Womit? Mit schmerzhaften Einblicken in die deformierte Psyche von Menschen, die vom Leben nichts als Lug, Trug und Entt�uschung mitbekommen haben. Mit unangenehmen Wahrheiten �ber das neue Russland, das wieder das alte zu werden droht. Und: Mit einer frechen, ungeschminkten Sprache, die die Dinge unverhohlen bei ihrem meist h�sslichen Namen nennt.

Holger Dauer

© TourLiteratur / Autor
Alle Rechte vorbehalten

Eine leicht gekürzte Fassung der Rezension erschien unter dem Titel "Tiefgekühlte Seele" zuerst in der "Allgemeinen Zeitung", Mainz (Nr. 282 vom 4. Dezember 2003, S. 8).

Buchcover: © Berlin Verlag, Berlin

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