HomeAutorenWerkverzeichnisseSekundärliteratur EpochenBegriffs-Lexikon Theorie Literaturpreise Rezensionen Aufsätze
News-Archiv
Links & Adressen
Rezensionen > Weber, Markus R.: Musen der Platzangst

"Wir haben auch noch die beiden Schlangen ..."
Markus R. Webers "Musen der Platzangst"

Markus R. Weber : Musen der Platzangst. Roger Corman verfilmt Stifters "Hochwald".
Graz/Wien: Literaturverlag Droschl 2002.
ISBN 3-85420-616-X
128 Seiten.
EURO 19,00

Roger Corman verfilmt Adalbert Stifter - eine bizarre Idee, denn ein gr��erer Gegensatz lie�e sich kaum vorstellen. Der Mannheimer Schriftsteller Markus R. Weber, 2001 Tr�ger des rheinland-pf�lzischen Martha-Saalfeld-Preises, einem F�rderpreis f�r junge Autoren, hat diese Idee geboren. In seinem neuen Buch "Musen der Platzangst" schildert er, was passiert, wenn sich Roger Corman einer Erz�hlung von Adalbert Stifter annimmt, in diesem besonderen Fall der Erz�hlung "Der Hochwald".

Corman, 1926 in Detroit geboren, begann seine Filmkarriere am Anfang der F�nfziger Jahre und wurde bald einer der bekanntesten Vertreter des so genannten B-Movies, d.h. mit geringem Budget gedrehte, handlungszentrierte Filme. Ein besonderes Faible entwickelte er f�r den Horrorfilm, bekannt wurden insbesondere seine Edgar Allan Poe-Adaptionen mit Vincent Price in der Hauptrolle. Adalbert Stifters Erz�hlungen hingegen sind gekennzeichnet durch ihren stimmungsvollen aber handlungsarmen Charakter.

Aus einer solch widerspr�chlichen Konstellation lie�en sich problemlos komische Effekte gewinnen. Tats�chlich finden sich auch S�tze wie "Wir haben auch noch die beiden Schlangen und eine halbe Gallone Blut [...] Das w�rd ich gern aufbrauchen." Verzweifelt versucht der Leser gef�hrliche Schlangen und Blut mit einer Erz�hlung Stifters in Verbindung zu bringen - ein vergebliches Bem�hen. An anderer Stelle bittet Corman seinen Drehbuchautor: "Machen Sie die Charaktere ein bi�chen verschieden, damit die mal richtig aneinandergeraten k�nnen." Demgegen�ber zeichnen sich die Werke Stifters gerade durch das konfliktlose Miteinander ihrer Charaktere zueinander aus. In keiner Erz�hlung sp�rt der Leser auch nur einen Hauch von Meinungsverschiedenheit zwischen den Figuren, verst�ndnisvoll wissen seine Charaktere aufeinander einzugehen, was auch leicht ist, wenn alle Figuren die gleichen �berzeugungen teilen. Doch komische Effekte, gewonnen aus der Konfrontation zwischen Cormans Filmwelt und Stifters Erz�hlwelt, sind in der Erz�hlung nur vordergr�ndig. Tats�chlich legt es der Text darauf an, die widerspr�chlichen Elemente in �bereinstimmung zu bringen, sie zu einer einheitlichen Stimmung zusammenzuf�hren. Bedenkt man die Unterschiedlichkeit des Materials, ist diese Leistung beinahe noch h�her zu bewerten.

Webers Geschichte variiert eine viel erz�hlte filmhistorische Anekdote. Eines Tages erh�lt Roger Corman einen Anruf von einem befreundeten Regisseur. Er habe eine Studiohalle und ein Set angemietet und sei nun drei Tage fr�her fertig geworden als geplant. Ob Corman das Set, ein Stra�enprospekt von New York, brauchen k�nne. Corman hat noch keine konkreten Vorstellungen, ist sich aber sicher, in drei Tagen einen kompletten Film abdrehen zu k�nnen und nimmt deshalb das Angebot an. So sei, erz�hlt man sich, der Film "A Little Shop of Horrors" entstanden, dessen Musicalfassung allgemein bekannt sein d�rfte. Weber ver�ndert die Anekdote dahingehend, dass Corman eine abgelegene Villa, die auf alle Beteiligten offensichtlich unheimlich und befremdlich wirkt, f�r einen neuen Film angemietet habe. Die Dreharbeiten gehen flott voran und sind drei Tage fr�her als vorgesehen abgeschlossen. In diesen drei Tagen will Corman nun noch ein weiteres Projekt realisieren und entschlie�t sich zur Verfilmung von Stifters Erz�hlung "Der Hochwald".

Stifters "Der Hochwald", 1842 erstmals erschienen, erz�hlt eine Geschichte aus dem Drei�igj�hrigen Krieg. Ein Burgherr bringt seine beiden T�chter, Clarissa und Johanna, auf eine abgelegene H�tte in einem tiefen Wald, um sie vor anr�ckenden schwedischen Truppen zu sch�tzen. Die stimmungsvollen Schilderungen der Waldeinsamkeit bestimmen die Erz�hlung. Der Krieg tobt fernab, er f�hrt bei Stifter nur eine untergr�ndige Existenz. Eines Tages taucht der Schwede Ronald im Wald auf. Vor langer Zeit hat er sich in Clarissa verliebt. Clarissa bittet ihn, das Schloss ihres Vaters zu sch�tzen. Ronald verspricht, auf seinen Hauptmann einwirken zu wollen. Einige Tage sp�ter sehen Clarissa und Johanna dann doch die rauchenden Ruinen ihrer Burg durch das Fernrohr. Ronalds Bem�hungen haben gerade das Gegenteil bewirkt, wie man sp�ter erf�hrt.

Weber verbindet die Welten Cormans und Stifters in Form einer Montage verschiedener Textsorten: pers�nlicher Bericht, Drehbuchentwurf, Gespr�che zwischen dem Regisseur Corman und seinem Drehbuchautor sowie sentenzenartige Bekenntnisse Cormans �ber seine Vorstellung von Film und Filmen vermischen sich. Der Drehbuchautor fungiert dabei als Ich-Erz�hler. Er berichtet von seiner Arbeit am Drehbuch, vom Eintreffen der Schauspielerinnen, von der Stimmung am Set und von der wunderlichen Atmosph�re, die in der Villa herrscht, in der die Dreharbeiten stattfinden.

Neben dieser Textsorte 'Bericht' begegnet dem Leser die Textsorte 'Drehbuch'. Denn in den chronologischen Bericht werden fortlaufend Passagen aus dem entstehenden Drehbuch eingeflochten. An manchen Stellen sind es fertig ausgearbeitete Szenen, manchmal handelt es sich auch nur um markante S�tze, die der Drehbuchautor f�r brauchbar h�lt, jedoch noch keiner Figur definitiv zugeordnet hat. Der Leser erlebt auf diese Weise das Entstehen des Drehbuchs, erlebt, wie sich eine Erz�hlung Stifters in einen Film im Stile Cormans verwandelt. Hinzu kommen ferner noch Anweisungen und Kommentare von Roger Corman, die der Ich-Erz�hler f�r seine Arbeit am Drehbuch erh�lt, oder die er sich selbst in Erinnerung ruft. Diese Anweisungen, Kommentare und Regeln sind als kurze Sentenzen eingeflochten, z. B. "Regel 3: Extra angstvolle Gesichter aufnehmen. Gro� die Augen - wenn man sp�ter noch was einf�gen mu�. Individuelle Angst archivieren." Zuweilen werden auch kurze Gespr�che zwischen Corman und dem Drehbuchautor mitgeteilt, die sich �ber Konzeption und Fortgang der Handlung austauschen. Kurz vor Ende der Dreharbeiten verl�sst der Ich-Erz�hler schlie�lich den Drehort, um nach Deutschland zur�ck zu reisen. �ber das endg�ltige Ergebnis, den fertigen Film, erf�hrt der Leser daher nichts.

Weber montiert aber nicht allein nur verschiedene Textsorten. Er kombiniert auch verschiedene Geschichten miteinander. Stifters "Hochwald" ist nicht die einzige Geschichte, auf der das Buch basiert. Der Bericht von den Dreharbeiten und die Schilderungen der Villa haben ebenfalls eine Vorlage. Weber bedient sich hierbei des Horrorfilms "The Haunting" von Robert Wise. Wise schildert in seinem Film einige Tage, die vier Menschen in einer mysteri�sen Villa gemeinsam verbringen. Eleanor und Theodora sind die weiblichen Hauptfiguren dieses Films. Im Buch erscheinen sie als die Darstellerinnen, die von Corman f�r seinen Film engagiert wurden. Corman und der Drehbuchautor r�cken an die Stelle der beiden m�nnlichen Hauptfiguren in diesem Film. Einige wenige Reminiszenzen entnimmt Weber dar�ber hinaus dem blutr�nstigen Horrorfilm "La Morte Vivante" von Jean Rollin, doch verbinden sich diese Reminiszenzen nicht zu einer ganzen Geschichte.

Gemeinsam ist den drei Geschichten "Der Hochwald", "The Haunting" und "La Morte Vivante", dass zwei Frauenfiguren in einem abgelegenen Haus im Mittelpunkt des Geschehens stehen. Dies bildet eine Br�cke zwischen den dreien. Nach Webers Aussage brachte ihn diese auff�llige Parallele urspr�nglich sogar auf die Idee, die Geschichten miteinander zu verkn�pfen. Im weiteren Verlauf seiner Arbeit entdeckte er dann noch andere Gemeinsamkeiten, deren wichtigster der Stimmungsgehalt in den drei zentralen Vorlagen ist. Aus Stifters "Hochwald" arbeitet er die latent vorhandene Unsicherheit und Angst heraus, bringt sie zur Deckungsgleichheit mit dem Unheimlichen, das in Cormans Filmen lauert, aber auch eher selten wirklich direkt zum Vorschein kommt.

�hnlich verh�lt es sich mit "The Haunting", denn auch diese Geschichte bezieht ihre Spannung aus dem Unfassbaren, das die Figuren des Films wie auch den Zuschauer umspielt. Das Unfassbare, nur latent Sp�rbare, ist der gemeinsame Nenner, der alle Geschichten miteinander verbindet. Um zu diesem gemeinsamen Nenner zu gelangen, musste Weber diesen Sachverhalt bei Stifter nur etwas verst�rken, bei Corman und Wise etwas abmildern. Dies gelingt ihm auch dadurch, dass er die Aufl�sung der Spannung, das filmische Finale ausspart. Der Knalleffekt, die ultimative Aufl�sung aller Konflikte, wird niemals wirklich realisiert. Alles bleibt in der Schwebe.

In Robert Wise "The Haunting" �berstehen die vier Personen die furchterregenden Tage in der unheimlichen Villa unbeschadet, doch als Eleanor, die besonders unter der Stimmung gelitten hat, endlich das Haus verlassen kann, verungl�ckt sie bei der Abreise t�dlich. �hnliche Finale sind auch von Corman bekannt. Bei Stifter kehren die Schwestern in die zerst�rte Burg zur�ck und leben dort einsam und zur�ckgezogen bis an ihr Lebensende, ergeben und zufrieden mit ihrem Schicksal. Die Macht des Schicksals wird bei ihm vorbehaltlos anerkannt, erh�lt den Status eines unbezweifelbaren Naturgesetzes. So wie sich die Schwester in der Waldeinsamkeit dem Rhythmus der Natur �berlassen haben, so widerspruchslos f�gen sie sich nun dem Schicksal. Hier ist also nicht wirklich ein Finale gegeben, das alle Konflikte auf ihre Spitze treibt und aufl�st, einfach schon deshalb, weil durch die Ergebenheit der Schwestern gar kein Konflikt entsteht. Allenfalls f�r den Leser, der sich nicht mit der Haltung der Schwestern zu identifizieren vermag, bleibt alles in einer unbefriedigenden Schwebe.

Im Gegensatz zu diesen widerspr�chlichen Gepflogenheiten gibt Weber seiner Geschichte ein abruptes Ende, die R�ckreise des Erz�hlers nach Deutschland vor Drehschluss. Damit entgeht er der Notwendigkeit eines Finales oder einer Einverst�ndniserkl�rung mit dem Ratschluss des Schicksals. Es bleibt dem Leser �berlassen, welches Ende er sich f�r die Geschichte denkt. F�r welche Option er sich jedoch auch immer entscheiden mag, die M�glichkeit anders zu w�hlen, bestreitet jederzeit den Status einer L�sung als letztg�ltiger. Webers Interesse ist nicht auf das Finale, auf Aufl�sung gerichtet. Sein prim�res Interesse gilt vielmehr der Frage, mit welchen Mitteln und Rezepten die einzelnen Erz�hler Spannung aufbauen. Er gestattet seinen Lesern einen Blick in die Hexenk�che der Spannungsproduzenten. Dass er dabei zur Erkenntnis gelangt, dass die Unterschiede zwischen so verschiedenen Erz�hlern wie Stifter, Corman und Wise allenfalls marginal sind, ist �berraschend. Der Witz von "Musen der Platzangst" besteht schlussendlich darin, dass er keine Widerspr�che in witzig-komischen Gegen�berstellungen zelebriert, sondern die Gemeinsamkeiten zwischen �u�erst unterschiedlichen Erz�hlungen entdeckt.

In zahlreichen seiner Texte hat sich Weber der Montage bedient. In einem Projekt �ber bedeutende Naturwissenschaftler der Vergangenheit montierte er Passagen aus deren Texten mit modernen wissenschaftlichen Studien und anderem Textmaterial. Ein Text aus dieser Reihe �ber den Botaniker Linn�, "Naturreich Vorh�lle: zw�lf Linn�-Bilder" wurde als rheinland-pf�lzisches Buch des Jahres pr�miert. Mit seinem neuen Buch "Musen der Platzangst" setzt Weber seine Experimente mit der Montage-Technik fort und erreicht darin einen neuen H�hepunkt.

Stefan Ringel

© TourLiteratur / Autor
Alle Rechte vorbehalten
Buchcover: © Literaturverlag Droschl, Graz/Wien

[Home] [Wir uber uns/Kontakt/Impressum][Autoren] [Werkverzeichnisse] [Sekundärliteratur] [Epochen] [Begriffs-Lexikon]
[
Theorie] [Literaturpreise] [Rezensionen] [Aufsätze] [News-Archiv] [Links & Adressen]