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Rezensionen > Zoderer, Joseph: Der Schmerz der Gewöhnung

Das Glück des kopfwehbewussten Unglücklichseins
Joseph Zoderers Roman "Der Schmerz der Gewöhnung"

Joseph Zoderer: Der Schmerz der Gewöhnung. Roman.
München: Hanser Verlag 2002
ISBN 3-446-20137-8
290 Seiten
EURO 19,90

1962 fragte sich der Südtiroler Autor Franz Tumler in seiner literarischen Selbstreflexion "Wie entsteht Prosa", wie es ihm wohl am Vorabend gelungen sei, das in treffende Worte zu fassen, was er tatsächlich in seinem Text habe sagen wollen. Es sei, so die prompte Antwort, der "Zusammenhang der erinnerten Bilder" gewesen, der ihm dazu verholfen habe. Sein Landsmann Joseph Zoderer, Jahrgang 1935, mag an diesen poetologischen Hinweis gedacht haben, als er den Protagonisten für seinen Roman "Der Schmerz der Gewöhnung" konzipierte, sieht sich doch auch dieser mit der Herausforderung konfrontiert, Ordnung in seine durcheinander gewirbelte "Erinnerungsmasse" zu bringen. Doch er scheitert an eben diesen Vergangenheitsbrocken, an denen sein Leben abprallt wie an einer Mauer.

Um es vorweg zu sagen: Zoderers neuer Roman ist ein hervorragendes Stück Literatur, ein selten gewordenes sprachliches Kleinod. Wie in seinen früheren Romanen - man denkt vor allem an den 1984 erschienenen "Lontano" - bricht ein Mann aus seinem Leben aus, sucht das Ferne, das ganz Andere, um letztlich sich selbst zu finden. Der Südtiroler Jul, - wie einst Zoderer selbst - Redakteur bei einem Hörfunksender in Bozen, Mittfünfziger, verheiratet mit der Italienerin Mara, wird mit dem Unfalltod seiner neunjährigen Tochter Natalie nicht fertig. Lange Jahre ist das her, und trotzdem stellt sich ihm die Frage nach Schuld und Verantwortung immer wieder neu. So vehement, dass sein Körper rebelliert: Heftige Kopfschmerzen plagen ihn seitdem, Kopfschmerzen, die ihn nicht mehr schlafen lassen und ihn unablässig in einem Zustand qualvoller Selbstreflexion gefangen halten. Für Mara und Natalie hat Jul vor Jahren ein halb zerfallenes Haus auf einem Berg hoch üer der Stadt erworben und es in mühevoller Arbeit zu einem "Refugium" gestaltet, zu einem Heimatort, einer Idylle, in der so etwas wie Daseinsgefühl erlebbar, permanent spürbar werden sollte. Jetzt, nach dem Tod der Tochter, hat es den Nimbus der "grünen Stelle", der Eigentlichkeitsnische inmitten der 'kalten' Daseinsrealität verloren. Schmerzhaft ist diese Erkenntnis, schmerzhaft auch das Erleben der ehelichen Alltagserstarrung, des Einfrierens jedes Gefühls, jeder Lust. Jul wird klar: Er muss diesen Ort verlassen, sich in einem anderen suchen.

Er reist in den tiefen Süden Italiens, ins sizilianische Agrigento, den Geburtsort des Schwiegervaters, den er persönlich nie kennengelernt hat und der doch immer von einer allumfassenden, geradezu beängstigenden Gegenwärtigkeit ist. Maras Vater war in den dreißiger Jahren ein reich dekorierter faschistischer Funktionär, ein stolzer "Rom-Marschierer", Seite an Seite mit dem vergötterten Vorbild, dem "Duce" Benito Mussolini. Nach Bozen versetzt, sollte er zur Italienisierung der Südtiroler beitragen, deren Konvertierung zur neuen identitätsstiftenden Ideologie vorbereiten. Über all das wird in der Familie kaum gesprochen, und wenn doch, dann mit trotzigen Liebesbekenntnissen. Auch Mara, die sich in ihrer Studienzeit in antifaschistisch-basisdemokratischen Debattierklubs engagierte und dort auch ihren späteren Mann Jul kennenlernte, denkt mit zärtlichen Gefühlen an den Vater. Jul, der Schwiegersohn, ist allenfalls ein "Halbfremder", der am Bollwerk familiärer Abschottung scheitert - scheitert auch deswegen, weil er eine andere Sprache spricht, Deutscher ist - genau wie Maras Mutter, die ihr Deutschsein aber für den dominanten Ehemann aufgegeben, besser: abgelegt hat und sich beharrlich weigert, mit Jul in der ihnen gemeinsamen Sprache zu reden.

In Agrigento, seinem Zufluchtsort, dem freiwillig gewählten Exil seiner Erinnerung, irrt Jul unablässig durch die Gassen-Labyrinthe der kleinen Stadt und - durch die Labyrinthe, die hintersten Winkel seiner aus den Fugen geratenen Seele. Warum, so fragt er sich, hat er sich auf die Ehe mit der Italienerin Mara eingelassen? Jener Frau, so mutmaßt er, die am Tod der gemeinsamen Tochter Schuld tragen könnte, da sie sich mit ihrem Liebhaber womöglich zu einem Zeitpunkt vergnügt habe, als sie auf das im Pool badende Kind achten sollte. Hat er sie jemals geliebt? Oder war es das so offensichtlich Fremde, das Exotische, das ihn anzog? War es gar die "Lust am Ungewissen", die ihn zur Ehe geradezu genötigt hatte, das Ausgeliefertsein an etwas, das sich nicht in die klar abgesteckte, bergbegrenzte Südtiroler Befindlichkeit pressen ließ? Jul versucht, sich Klarheit zu verschaffen und verstrickt sich immer mehr in die zermürbende Gedankenwelt des eigenen Inneren.

Besonders eindrucksvoll sind jene Passagen, in denen Zoderer seinen Jul üer die Tiroler Mentalität reflektieren lässt, aus deren Umklammerung er sich nicht befreien kann und - im Grunde auch nicht will. "Südtirol" - das ruft verschwörerische Abneigung, das Gefühl suspekt gewordener Vertrautheit, distanzierte Nähe, kurz: die widersprüchlichsten Gefühle hervor. Nein, mit der dörflich-bäuerlichen Borniertheit und Stammtisch-Ignoranz mag er sich nicht gemein machen und auch das folkloristisch verbrämte Tirolertum nötigt ihm allenfalls ein ironisches Lächeln ab. Aber eben nur ein Lächeln. Keine Verdammung, keine Verurteilung. Dafür fühlt er sich zu sehr verbunden mit der "Heimat", möchte ihr die verbliebene "nylondünne Vergangenheitshaut" nicht nehmen, diesen letzten Rest von Identitätsbewusstsein, an den auch er sich klammert. Umso mehr ürigens, als er sich mit dem "Sizilianischen" Maras und deren Familie konfrontiert sieht, es als Provokation identifiziert, als Auslöser für das eigene kulturelle Unbehagen. Am Ende steht der physische Zusammenbruch vor der Portiersloge in seinem kleinen Hotel und - die schmerzliche Erkenntnis, dass alles Fragen nicht zum Ziel geführt hat, ja dass dieses Ziel selbst nicht mehr benannt werden kann - ein Suchender, der den Gegenstand seines Suchens aus den Augen verloren hat.

Nach Romanen wie "Das Glück beim Händewaschen" (1982), "Die Walsche" (1982) und "Das Schildkrötenfest" (1995) hat Zoderers Erzählkunst hier einen vorläufigen Höhepunkt gefunden. Zoderers Sprache ist klar, unaufdringlich, von bestechender Genauigkeit. Unauffällig umwölbt sie das Zentrum des Erzählens, fließt in ruhigen Bahnen dahin. "Der Schmerz der Gewöhnung" - eine atmosphärisch beklemmende, thematisch zeitlose Erzählung von den Kommunikationsdefiziten unterschiedlicher Kulturen, von der Sprachlosigkeit sprachlicher Grenzgänger. Zoderers Roman ist zweifellos - warum es nicht deutlich sagen? - ein literarisches Ereignis, ein Stück Erzählkunst, das bleiben wird.

© TourLiteratur / Autor
Alle Rechte vorbehalten
Buchcover: © Hanser Verlag, München

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