Triumph
der zynischen Vernunft
Der amerikanische Schriftsteller Ambrose Bierce
Geboren am
24. Juni 1842 im US-amerikanischen Bundesstaat Ohio, gestorben vermutlich
Weihnachten/Neujahr 1913/14 in Mexiko.
Eine scharfe
Zunge hatte er und - eine spitze Feder. Beruf: Soldat und Satiriker, Menschenfeind
und Dandy, Abenteurer und Journalist. Leichen, skurrile Existenzen, psychisch
Leidende pflasterten seinen literarischen Weg, Verwegenheit und hochmütiger
Spott, Tragik und tiefe Einsamkeit wurden zu Leitmotive seines Lebens.
Ambrose Bierce war einer der schillerndsten Gestalten im literarischen
Amerika des 19. Jahrhunderts - eine personifizierte Provokation, eine
erfrischend-gehässige Zumutung in Poetengestalt. Kein Tabu war seinem
Zynismus heilig, kein noch so sensibles Thema wurde ausgelassen. Ob es
sich um Haupt- und Staatsaktionen handelte oder um die allgemeinen, die
kleinen und großen Schwächen des Menschengeschlechts - sein Spott versiegte
nie und traf fast immer ins Zentrum bürgerlicher Empfindlichkeit. Bierce
war ein Grenzüberschreiter in mehrfacher Hinsicht: Die Grenzen des "guten"
Geschmacks, der Pietät, des Anstands und - der eigenen Leidensfähigkeit
- überwunden sollten sie werden und überwunden hat er sie - wenn auch
um den Preis ungeteilter Anerkennung, literarischer Reputation und menschlicher
Zuneigung. "The Bitter Bierce" nannten ihn schon die Zeitgenossen,
die seine zynischen Attacken liebten und fürchteten. Und: Er machte diesem
Namen alle Ehre. Berühmt wurde er mit seinem "Wörterbuch des Teufels",
eine eigenwillige Sammlung bissiger Aphorismen und Epigramme, die Quersumme
seiner Menschenverachtung, die Quintessenz seiner Resignation. Vor neunzig
Jahren erschien "The Devil`s Dictionary" erstmals in Buchform.
Krieg
dem Krieg
Bierce wird im Juni 1842 als zehntes von dreizehn Kinder auf einer Farm
in Ohio geboren. Die erdrückende Enge eines sich rechtschaffen gebärdenden
Puritanismus lässt ihn bereits mit fünfzehn Jahren die Familie fluchtartig
verlassen, um sich als Druckerlehrling zu verdingen. Bald danach besucht
er das Militärinstitut in Kentucky. Im amerikanischen Bürgerkrieg von
1861 bis 1865 kämpft er auf der Seite der Union gegen die rebellischen
Südstaaten. Er arbeitet sich vom Trommler zum Offizier hinauf und - zum
radikalen Kriegsgegner. Das menschliche Leid, das er tagtäglich vor Augen
hat, lässt ihn zusehends an der Sinnhaftigkeit der Gemetzel zweifeln.
In zahlreichen Erzählungen schildert er immer wieder die Absurdität des
Kriegstreibens, das Menschen sogar dazu bringt, im Wahn starren Pflichtbewusstseins
ihre eigenen Väter ("Ein Reiter am Himmel"), ihre Kinder und Ehefrauen
("Das Gefecht am Coulter-Pass") oder aus hysterischer Selbstüberschätzung
den Bruder zu töten ("Die Spottdrossel"). Mit Begriffen wie "Patriotismus"
oder "Frieden" kann Bierce danach nichts mehr anfangen: Frieden sei
letztlich eine "Epoche des Betrügens zwischen zwei Epochen des Kriegführens".
Und Patriotismus erweise sich nur allzu oft als erste Zuflucht eines Schurken.
The
Town Crier
1868 geht Bierce für vorerst vier Jahre nach San Francisco. Dort, im Zeitungs-Mekka
des damaligen Amerika, schreibt Bierce seine ersten Artikel und avanciert
rasch zur Feuilleton-Berühmtheit. Für die bekannte Tageszeitung "News
Letter" leitet Bierce die Kolumne "The Town Crier" - ein Titel, den
der junge ungestüme Literat nur allzu wörtlich nimmt. Innerhalb kürzester
Zeit legt er sich mit der gesamten Honoratioren-Gemeinschaft der Stadt
an. Besonders die kirchlichen Würdenträger sind Zielscheibe seiner Hasstiraden
- späte journalistische Rache für eine als peinigend empfundene streng
kalvinistische Erziehung. Als ein bekannter Theologie-Professor stirbt,
schreibt Bierce einen Nachruf, der an Häme und Bosheit keine Wünsche offen
lässt: Sarkastisch gratuliert er dem Verstorbenen dazu, nun endlich seine
theologischen Theorien im religiösen "Hauptquartier" einer eingehenden
Prüfung unterziehen zu können - ein "Privileg", das Bierce auch für
die übrigen Glaubensgenossen des Verschiedenen erbittet. In den christlichen
Gemeinden macht sich Bierce damit keine Freunde.
Frauen
- und andere Krankheiten
1870 lernt Bierce die junge Mollie Day kennen, Tochter eines wohlhabenden
Bergwerksbesitzers, eine ehrgeizige, verwöhnte Dame, die auf dem gesellschaftlichen
Parkett mehr zu Hause ist, als dies Bierce lieb sein konnte. Im Dezember
1871 heiraten die beiden. Dies löst keine geringe Verwunderung aus, hatte
der scharfzüngige Kolumnist doch in unzähligen Artikeln seine Verachtung
über das weibliche Geschlecht verbreitet. Die Art, so heißt es einmal,
sei geographisch weit verbreitet - wo immer man suche, treffe man sie
an, aber: wo immer man sie antreffe, bereue man es schließlich auch. So
etwas wie "Reiz" bescheinigte er den Frauen nur dann, wenn es gelänge,
ihnen in ihre Arme zu fallen, "ohne ihnen in die Hände zu fallen".
Liebe sei denn auch nichts anderes als eine Krankheit, die wie Karies
wüte, die Ehe schließlich die "Befindlichkeit einer Gemeinschaft,
die aus einem Herren, einer Herrin und zwei Sklaven" bestehe, also, so
die bitter-ironische Rechnung, "insgesamt aus zwei Personen".
Die
Jahre 1872 bis 1875 verbringt Bierce mit seiner Frau in London, in dessen
literarischen Kreise er rasch Fuß fasst. Er arbeitet für mehrere Tageszeitungen
und ist - neben Mark Twain und anderen Berühmtheiten - ein gern gesehener
Gast auf den zahlreichen Banketten, die die Zeitungsmagnaten der Fleet
Street veranstalten. Wegen seines chronischen Asthmaleidens allerdings
muss er die geliebte englische Hauptstadt verlassen. Über die Stationen
Bristol, Paris und Bath kehrt das Ehepaar Bierce schließlich im Herbst
1875 an die amerikanische Westküste zurück. Die nächsten Jahre sind durch
ein unstetes berufliches Leben geprägt. Bierce übt sich in Tätigkeiten,
die so gar nicht zu dem Bild passen wollen, das man sich von dem Zyniker
zurecht gelegt hatte. Mal arbeitet er als Angestellter im Münzamt von
San Francisco, ein anderes Mal als Manager einer Bergwerksgesellschaft.
Abenteuerliches ist freilich auch dabei: Eine Zeit lang begleitet er Geldtransporte
- eine zuweilen lebensgefährliche Aufgabe, für die er sich eigens einen
Mörder als Leibwächter engagiert.
Nieder
mit der Zivilisation
Journalistisch arbeitet er vorerst nur sporadisch, hauptsächlich für die
neu gegründete Zeitschrift "Argonaut", deren Herausgeber er wird.
Wieder steht ihm eine eigene Rubrik zur Verfügung, die er rasch mit unverwechselbarem
Leben erfüllt: Unter der Spalte "Prattle" ("Geschwätz") verfasst
er unzählige Artikel, in denen er auf bekannt sarkastisch-bissige Art
die Korruption der damaligen politischen Klasse entlarvt. Hier entstehen
auch die ersten humoristischen Definitionen, die er später in sein "Wörterbuch
des Teufels" aufnehmen sollte. Dazwischen zieht es ihn immer wieder in
die Einsamkeit der Berge, weg von der Familie, weg vom Gefühl der Entfremdung,
das sich ihm zusehends aufdrängt, wenn er an seine Ehe denkt. Auf langen
Spaziergängen entwickelt Bierce eine innige, fast kindlich-naive Naturverbundenheit,
die ihn bis ins Alter nicht mehr loslässt. "Nieder mit der Zivilisation!
Nichts als die Berge und die Wüste für mich!" - so schreibt er einmal
in einem Brief.
Von Affen
und Quacksalbern
Erst 1881 steigt er wieder voll ins journalistische Geschäft ein, schreibt
nun für die satirische Wochenschrift "Wasp" und - eine große Ehre
für den mittlerweile Fünfundvierzigjährigen - für den "Examiner"
des großen Zeitungsverlegers W. R. Hearst, mit dem er bis 1909 zusammenarbeitet.
Auf Hearsts Drängen verlässt Bierce 1896 die Westküste und geht als Korrespondent
nach Washington, wo er bis 1912 für die Zeitung "American" tätig
ist. In den neunziger Jahren erscheinen die ersten Sammelbände in Amerika
mit Erzählungen Bierces: "Tales of Soldiers and Civilians" ("Erzählungen
von Soldaten und Zivilisten", 1891) und "Can such things be?" ("Kann
es so etwas geben?", 1893). Die "Fantastic Fables" ("Phantastische
Fabeln") folgen 1899. Alle übrigen Geschichten erscheinen erst 1909 im
Rahmen seiner "Collected Works" in Buchform. 1906 entschließt sich
Bierce schließlich, seine in den letzten fünfundzwanzig Jahren verstreut
erschienenen, ironisch-hintergründigen Definitionen in einer Sammelausgabe
zu veröffentlichen. "The Cynic`s Word Book", so der Titel, enthält
etwa tausend eigenwillige Worterklärungen - von "Affe" ("Klettertier;
haust mit Vorlieben auf Stammbäumen") bis "Zechen" ("Mit geziemender
Feierlichkeit die Geburt eines wohledlen Kopfschmerzes begehen"), von
"Quacksalber" ("Mörder ohne Lizenz") bis "Gesetz" ("Willkür
und Lust der Richter"). 1911 wurde das Buch in seinen endgültigen Titel
"The Devil`s Dictionary" umbenannt.
Bitterkeit
und Misanthropie haben bei Bierce in den Jahren nach 1900 an Intensität
gewonnen. Ihre Wurzeln liegen sicher in den frappierenden Kriegserlebnissen
der sechziger Jahre. Aber auch persönliche Tragödien prägten das Menschenbild
des Schriftstellers. 1889 wird sein ältester, erst sechzehnjähriger Sohn
bei einer Auseinandersetzung um ein junges Mädchen getötet, zwei Jahre
später verlässt ihn seine Frau, die 1904 die Scheidung einreicht. 1901
schließlich stirbt sein zweiter Sohn - er hatte sich zu Tode getrunken.
Reise
ohne Wiederkehr
Das Ende von Ambrose Bierce ist so abenteuerlich und mysteriös, wie viele
seiner Schauererzählungen. "Was mich betrifft, so werde ich morgen
von hier Abschied nehmen, ohne zu wissen, welcher Bestimmungsort mich
erwartet." So schreibt Bierce am zweiten Weihnachtsfeiertag des Jahres
1913 an seine langjährige Vertraute und Sekretärin Carrie Christiansen.
Es waren seine letzten Worte. Offenbar stürzte sich der 71jährige in die
Wirren des mexikanischen Bürgerkriegs und wurde von Rebellen oder von
Regierungstruppen hingerichtet. Genaues weiß keiner. In einem Interview,
dass er noch im Oktober einem Zeitungsreporter gab, betonte Bierce, er
wolle zu Pferd durch Mexiko reiten, mit dem Schiff weiter nach Südamerika
segeln, die Anden überqueren und schließlich von Buonos Aires aus zurückkehren.
Kopfschüttelnd wurde das wagemutige Programm zur Kenntnis genommen. Der
Frau seines Neffen gegenüber räumte er in einem Brief, datiert wenige
Wochen vor seiner Mexiko-Reise, die Möglichkeit ein, das Unternehmen könne
gefährlich werden und womöglich damit enden, dass er an eine Wand gestellt
und "zu Fetzen geschossen" werde. Offen gesteht er, er halte dies
"für eine ganz angenehme Art, aus diesem Leben zu scheiden".
Zahlreiche
Mythen und romantische Legenden ranken sich um den rätselhaften Tod des
Schriftstellers - spannender Stoff für Schriftstellerkollegen, Sensationsfutter
für Leser. Die wohl bekannteste poetische Mutmaßung um das Ende stammt
von dem mexikanischen Schriftsteller Carlos Fuentes. In seinem 1986 auf
Deutsch erschienenen Roman "Der alte Gringo" schildert er den alten
Bierce als resignierten, todessehnsüchtigen Mann, der nach Mexiko geht,
um noch einmal die Grenzen seiner selbst zu überschreiten und zugleich
die Möglichkeiten auszuloten, seinem von Lebenstragik zerfaserten Bewusstsein
zu entrinnen - "ein alter Mann voller Sehnsucht, voller Erinnerungen
an Liebe und Lachen", im Grunde ein "alter verbitterter Zyniker",
genauso "sentimental wie die von ihm Verhöhnten und Verachteten".
Er begegnet einer faszinierenden Frau, der es gelingt, ihm die schonungslose,
selbstanklägerische Lebensbeichte zu entlocken: "Mein Name", so erkennt
der Bierce in Fuentes` Roman, "war gleichbedeutend mit Kälte … Ich
war des Teufels Lehrling, nur hätte ich nicht einmal den Teufel als Lehrmeister
anerkannt. Gott noch viel weniger …" Der "alte Gringo" wird schließlich
von einem eifersüchtigen, jung-forschen Revolutionsoffizier hinterrücks
erschossen. In der neuesten Biografie, verfasst von dem renommierten amerikanischen
Militärhistoriker Roy Morris, 1999 im Zürcher Haffmans Verlag erschienen,
wird die These vertreten, Bierce habe für die Öffentlichkeit einen soldatisch-ehrenvollen
Tod auf dem Schlachtfeld inszenieren wollen, in Wirklichkeit aber, lebensmüde
und seiner jahrzehntelangen Melancholie überdrüssig, Selbstmord begangen.
Nachvollziehbar ist diese Deutung durchaus - hatte Bierce doch schon in
seinem "Devil`s Dictionary" von der Langlebigkeit als einer "ungewöhnlichen
Ausdehnung der Todesangst" gesprochen.
Der
eisige Blick des Zynikers
In seinen Erzählungen schildert Bierce mit dem eisigen Blick des Zynikers
menschliche Grenzsituationen, psychische Abgründe, Schicksale an der Schwelle
zum Surrealen. Keine Spur von moralischer Perspektive, von Trost oder
Sinnhaftigkeit des Erzählten. Nur kalte Nüchternheit, emotionale Leere,
radikaler Pessimismus.
Stellvertretend
für das immer wiederkehrende Prinzip desillusionierender Realitätsbegegnungen
steht seine Erzählung "An Occurrence at Owl Creek Bridge" ("Ein
Ereignis an der Owl-Creek-Brücke"), zugleich seine bekannteste und literarisch
anerkannteste. Eine Episode aus dem amerikanischen Bürgerkrieg: Ein junger
Mann, Zivilist und Südstaatler, steht auf einer Brücke, unter sich den
reißenden Fluss, neben sich seine Henker. Er ist der Spionage überführt
und soll gehenkt werden. Peyton Farquhar ist ein Idealist, einer, dessen
Herz sich für eine Idee entflammen kann, der bereit ist, für eine "gerechte
Sache" seine Kräfte zu gebrauchen und sein Leben zu riskieren. Selbst
jetzt noch, im Angesicht des unausweichlichen Todes, gibt er sich der
Illusion hin, ein Wunder könne geschehen und ihn im letzten Augenblick
vor der Katastrophe bewahren. Und wirklich: Der Strick reißt, der Delinquent
stürzt in die Fluten, kann sich von seinen Fesseln befreien und schwimmt
unter dem wütenden Kugelhagel der Unions-Soldaten hindurch in die Freiheit.
Völlig erschöpft steht er Stunden später vor seinem Haus, in dem ihn seine
junge schöne Frau und seine Kinder erwarten. Der Augenblick ersehnter
Innigkeit ist da, er stürzt in die Arme des geliebten Wesens und - spürt,
wie ihn ein alles betäubender Schmerz niederstreckt. "Peyton Farquhar
war tot; mit gebrochenem Genick schaukelte sein Leichnam unter dem Gebälk
der Owl-Creek-Brücke langsam von einer Seite zur andern." Alles war nur
Imagination, sekundenkurze Hoffnungsfetzen, heftig zerplatzende Illsuionsblasen.
Schockierend wirkt die frostige Einsilbigkeit, mit der das alles erzählt
wird. Gnadenloser kann ein Erzähler mit seinen Lesern nicht umspringen.
Wenige dürre Worte zerstören den Wunschtraum einer möglichen "heiligen"
Friedfertigkeit mit solcher Nachhaltigkeit, dass einem der Atem gefriert.
Die Stille nach dem letzten Satz ist zugleich die schockierte Tonlosigkeit
des Lesers, der mit seinem Entsetzen alleine bleibt. Der Stoff wurde übrigens
1962 unter dem Titel "La rivière du hibou" von Robert Enrico verfilmt,
ein packender Schwarz-Weiß-Streifen, dem es auf eindringliche Weise gelingt,
die Emotionsbrüche des Textes auf die Leinwand zu bannen.
Von Toten
und Untoten
Traumphantasien, surreale Überzeichnungen, die mit zuweilen manischer
Akribie behandelte Todesthematik, kafkaesk zuweilen, verwirrend fast immer
- das und noch mehr scheint ihn mit einem großen Schriftstellerkollegen
zu verbinden, der wenige Jahre nach Bierces Geburt in Baltimore gestorben
war: mit Edgar Allan Poe. Auch er zeichnete mit schauriger Eindringlichkeit
die inneren Abgründe des Menschen, seine existenziellen Ängste, seine
sich oft als absurd erweisenden Hoffnungen. Schrecken, ja nacktes Grauen
werden bei Poe wie bei Bierce zu beherrschenden psychischen Dispositionen
menschlichen Daseins. Die Auswüchse seelischer Deformationen zeigen sich
bei Poe nirgend deutlicher als in den Erzählungen über ruhelose Untote
und - vor allem - über jene, die für tot gehalten und unwissentlich lebendig
begraben wurden. "The Fall of the House of Usher" ("Der Fall
des Hauses Usher"), "Ligeia" und "The Premature Burial" ("Das
vorzeitige Begräbnis") sind meisterhafte Beispiele dieses Genres.
Bierce zeigt
sich fasziniert von der Prosakunst des Landsmannes. Zahlreiche Horrorgeschichten
orientieren sich in stofflicher Hinsicht deutlich an Poe, zeigen jedoch
ebenso klar die weitgehende stilistische Unabhängigkeit. In seiner kleinen
Erzählung "One Summer Night" ("In einer Sommernacht") beispielsweise
geht es um einen Scheintoten, der in der Nacht nach seinem Begräbnis von
zwei Medizinstudenten und einem Gehilfen wieder ausgegraben wird, freilich
nicht, um den lebendig Begrabenen aus seinem engen Gefängnis der Ewigkeit
zu befreien, sondern um seine vermeintliche Leiche zu medizinischen Experimenten
benutzen zu können. Als sich der befreite "Leichnam" plötzlich aufrichtet,
fliehen die jungen Mediziner mit entsetzten Schreien. Am nächsten Morgen
präsentiert der nachts zurückgebliebene Gehilfe den schreckensbleichen
Studenten den nun wirklich Toten, blutbesudelt und mit eingeschlagenem
Kopf: Um sein Honorar doch noch zu erhalten, hat er den von aller Welt
für tot gehaltenen Mann mit einem Spatenhieb da hingeschickt, wo man ihn
eh schon vermutete. Der wahre Schrecken der Erzählung geht vor allem von
der völligen Schrecklosigkeit des Protagonisten aus: Gänzlich unberührt,
emotional teilnahmslos registriert der eben im Sarg Erwachte seine aussichtslose
Lage und - akzeptiert sie, "ohne zu nörgeln", gar mit "pathologischer
Gleichgültigkeit". Mit sarkastischem Humor kommentiert der Erzähler die
Situation: Aussichtslos wie die Umstände nun mal seien, müsse sich der
Scheintote wenigstens über seine unmittelbare Zukunft keine Gedanken mehr
machen.
Dieser ganz
eigene Erzählduktus ist es auch, den Bierce so unverkennbar werden ließ
und ihn von anderen Meistern des Genres wie Poe unterschied: Düstere Melancholie
bei Poe, immer gepaart aber mit der letztendlichen Verdammung des "Bösen",
mit einer mystischen "Heilsgewissheit", kalt-bitterer Sarkasmus bei
Bierce, bei dem Entzücken und Entsetzen Hand in Hand zu schreiten scheinen
- vielleicht der Versuch, dem Schrecken den Stempel der Normalität aufzudrücken
und ihn gerade dadurch umso nachhaltiger zu potenzieren.
Auch in der
Erzählung "The Boarded Window" ("Das vernagelte Fenster") erweist
sich die Überzeugung vom Tod eines geliebten Menschen als fataler Irrtum.
Der Farmer Murdoch bereitet seine Frau, die er in seiner Blockhütte im
Wald tot aufgefunden hat, für die Beerdigung vor. Sorgfältig wäscht er
den Leichnam, kleidet ihn neu ein und bahrt ihn in der Hütte auf, um die
Totenwache zu halten. Müdigkeit übermannt ihn und er schläft ein. Von
einem grauenvollen Geräusch wird er mitten in der Nacht geweckt: ein Panther
ist ins Haus gedrungen und eben dabei, den Leichnam als Beute wegzuschleppen.
Murdoch kann das Tier mit einem Gewehrschuss vertreiben. Doch es hinterlässt
eine makabre Szenerie: Entsetzt muss der Mann feststellen, dass seine
Frau ursprünglich noch gelebt hat und erst durch die Attacken des Panthers,
gegen die sie sich noch heftig gewehrt haben musste, getötet wurde. Grausiges
Indiz: Zwischen den Zähnen der zerfleischten Frau steckt ein Stück vom
Ohr des Tieres. "Ein Mann wie Bierce", so schreibt Elisabeth Schnack
im Nachwort zur Erzählsammlung "Mitten im Leben sind wir vom Tod
umfangen", "besaß die Verachtung des Aristokraten für die Gefühle
der großen Menge. Er verfiel nicht der weichlichen Unaufrichtigkeit, die
stets happy endings verlangt. Ihm war das Zudecken und Verhüllen unangenehmer
Wahrheiten verhasst."
Bierce
- Die Spannung bleibt
Bierce literarische Kompetenz ist immer wieder angezweifelt worden, nicht
nur von Zeitgenossen, auch von heutigen Interpreten. Mögen die poetisch-ästhetischen
Qualitäten der Erzählungen und journalistischen Arbeiten auch etwas hinter
den Meisterleistungen eines Edgar Allan Poe, Herman Melville oder Mark
Twain zurückstehen - beeindruckend und spannend bleibt die Rigorosität
eines einzigartigen Lebens- und Werkentwurfs - auch und gerade für moderne
Leser. Das Werk ist eine Endeckungsreise wert - buchen sollte sie, wer
seine Faszinationsfähigkeit für Skurriles und Phantastisches, für psychologische
Abgründigkeiten und exzessiven Humor noch nicht verloren hat.
©
TourLiteratur / Autor
Alle Rechte vorbehalten
Buchhinweise
Die bisher vollständigste deutschsprachige Text-Sammlung bietet folgende
Ausgabe:
"Die Gesammelten Geschichten und Des Teufels Wörterbuch". Haffmans
Verlag, Zürich - ISBN 3-251-20308-8.
Erschwingliche Taschenbuch-Ausgaben des "Wörterbuchs des Teufels"
gibt`s beim Insel Verlag und als btb/Goldmann-Buch.
Eine englischsprachige Version gibt`s bei Reclam: "The Devil`s Dictionary".
Ausgewählt u. hrsg. v. K. Werner (Reclams Universal-Bibliothek Nr. 9057.
Weitere lieferbare Werke:
"Fantastische
Fabeln". btb/Goldmann-Verlag, München.
"Horrorgeschichten". btb/Goldmann-Verlag, München.
"Lügengeschichten". btb/Goldmann-Verlag, München.
"Mein Lieblingsmord". Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M.
"Das Spukhaus und andere Gespenstergeschichten". Insel Verlag, Frankfurt/M.
"Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen". Claassen Verlag, Hildesheim.
"Ein Mann mit zwei Leben" btb/Goldmann Verlag, München.
Außerdem gibt es die beiden berühmten short storys "Ein Vorfall an
der Owl-Creek-Brücke" und "Das Gefecht bei Coulter`s Notch" zusammen
auf einer Hörkassette beim Audiobuch-Verlag, Freiburg.
Die umfangreichste, neueste und zugleich spannendste Biografie stammt
von Roy Morris: "Ambrose Bierce. Allein in schlechter Gesellschaft."
Biografie. Aus dem Amerikanischen v. Georg Deggerich. Haffmans Verlag,
Zürich 1999.
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