Aufsätze > Auf der Suche nach Michael Holzach |
In Gedanken schon immer woanders - Von M. A. Sieber Ich glaube, dass Michael Holzach jemand war, in dessen Nähe sich eine große Ferne äußerte. Im Grunde wollte er immer ein anderes Leben führen. Und hätte nicht ein winziger Teil seines Selbst der Seligkeit getrotzt, dann wäre aus dem Journalisten bestimmt ein frommer Ordensbruder geworden. Offenbar verspürte er doch zuviel Unruhe, zuviel Fleisches- und Augenlust, um länger als ein Jahr bei den Hutterern in Kanada zu bleiben. 1979 kehrt Holzach nach Hamburg zurück. Er schreibt ein Buch über die deutsche Wiedertäufersekte und als es im nächsten Jahr erscheint, ist er in Gedanken schon wieder woanders. So sitzt er im Mai schweigend mit seiner Freundin am Frühstückstisch; kurz darauf schultert er seinen Rucksack und verlässt erleichtert das Haus. Anfangs als autobiographische Wanderung geplant, "ohne jede Verwertungsabsicht", wurde seine Deutschlandreise zum Bestseller – ausgerechnet die Idee, ohne Geld durch die Bundesrepublik zu wandern, hat sich sehr gut verkauft und findet noch heute neue Nachahmer. "Ich wollte mich versuchsweise lossagen vom Geld, weil mein Lebenshunger bisher zu meinem Einkommen und zu meinem Alter proportional gestiegen ist" [1], erklärt der Autor selbst. Es bleibt jedoch nicht allein bei dem Versuch, die Sinne für die raue Wirklichkeit zu schärfen, Holzach sucht das Ursprüngliche in einem doppelten Sinne und steuert die Orte seiner Kindheit und Jugend an: Die Ruhr-Universität Bochum, wo er Sozialwissenschaften studierte, die Villa seines verstorbenen Vaters in Bergisch-Gladbach, Onkel Werner in Heppenheim und die Münchener Wohnung von seiner Mutter. Die erste und letzte Station [2] seiner Reise aber ist Holzminden, diese Stadt hat es ihm angetan, hier ist er zehn Jahre ins Internat gegangen und kennt jede Ecke. Schon im Weserbergland beginnt die Vorfreude auf das baldige Wiedersehen: "Heimisches Land! Ich könnte jubeln! Mir ist, als sei ich der Erfüllung einer unbestimmten Sehnsucht ganz nah." (S. 65) Trifft auf Holzach nicht zu, was Adorno einmal bemerkt hat: das alles, was man im Leben realisiert, wenig anderes ist, als der Versuch, die Kindheit verwandelnd einzuholen? Als er in dem Landschulheim am Solling ankommt, erfährt er von seinem ehemaligen Erdkundelehrer und "Kameradschaftsführer", Herr Triloff, dass er schon als Dreizehnjähriger barfuss von Holzminden nach Hamburg laufen wollte. "Und nun, nach zwei Jahrzehnten, komme ich zwar in Schuhen, aber doch zu Fuß aus Hamburg, um mir als erwachsener Mann die Bestätigung abzuholen, die ich als Kind so nötig gebraucht hätte. Hier vor meinem alten Lehrer bin ich wieder der kleine Quintaner, mit den gleichen Ängsten, den gleichen Selbstzweifeln, da hilft kein Abitur, kein Studium und auch kein angesehener Redakteursposten mit Telefon und Sekretärin, die mir die Rechtschreibfehler aus den Manuskripten sucht. Sind diese Kindheitswunden wirklich der Grund, warum ich durchs Land laufen und in kurzen Hosen hier erscheinen muß?" (S. 71) Dass wir von seiner Suche nach der verlorenen Zeit überhaupt wissen, liegt daran, dass ihm der Reporter folgte wie der Schatten dem Wanderer. Bei Holzach vermischen sich journalistische mit persönlichen Motiven, vermengt sich Sozialkritik mit Selbstexperiment und so befinden sich neben den Dingen, die man in der freien Natur zum Überleben braucht, in seinem Rucksack auch Tagebuch und Kamera. Diese zwei Aufzeichnungsinstrumente halten ihn in Kontakt mit der normalen, bürgerlichen Welt. Holzach verliert sich nicht in der Fremde, er ist wie Odysseus eine Rückkehrergestalt. Doch wohin? Wenn er von seinen Abenteuern in das Haus am Rande der Lüneburger Heide zurückkehrt [3], kehrt er, so scheint es, vor allem an seinen Schreibtisch zurück. Auf diese schreibende Weise wird jede andere Lebensform erträglich und verleiht ihr zugleich eine höhere Zweckmäßigkeit. Dass er sich mit sozial engagierten Journalismus [4] durch das Elend der Leute schmarotzt, verursacht Holzach ein schlechtes Gewissen. Am dritten Tag seiner Reise schreibt er in Munster: "Ich bin mir selbst nicht glaubwürdig, und meine größte Sorge auf dieser Reise ist nicht etwa, unterwegs zu verhungern ..., wirkliche Angst macht mir nur die Vorstellung, daß ich dies alles tue, um darüber zu schreiben. Ich sehe schon den Werbetext auf dem Buchumschlag: Ohne Geld durch deutsche Lande – ein Reporter erzählt. Mit geheuchelter Armut Geld machen, zu solch perversem Betrug wäre selbst Gustav [5] nicht fähig, der mit allen Wassern gewaschen ist, wenn es gilt, den quälenden Durst zu löschen. Und wie scheinheilig sind meine Selbstzweifel, da ich es am Ende ja doch tun werde. Aber ich muß es tun, muß mich zur Zwiespältigkeit meiner Motive und meiner Rolle bekennen, muß laufend beschreiben, wie es mir seßhaftem Tippelbruder ergeht auf meinem Weg durchs Land." (S. 28f.) Was ihm auf dem Weg von Hamburg nach München alles passiert, kann jeder selbst nachlesen, was Holzach da geschrieben hat, ist vor allem ein schönes Stück Reiseliteratur, ein Vorläufer von Christian Krachts Faserland. [6] Am glücklichsten war ich mit Holzach in jener Nacht, in der das Allgäu vom Silbermond in ein anderes Land verzaubert wurde und er wie ein Traumwandler über mehliggraue Weiden schwebte – eine Nacht, zu schön um zu schlafen. Schlimm war es dann, als er zum Schluss nur noch nach Hause wollte: Auf einmal war die Reise zu Ende und nichts schien unmöglicher als diese Rückkehr. Denn beim Lesen hatte ich den Eindruck, als sei das Leben nur als Vorüberziehender zu ertragen, als sei die Rastlosigkeit der einzige Ort, an dem es sich aushalten ließe, und das Unglück des Unendlichen das einzige Glück. Interessant ist dabei auch, dass sich seine Rolle mit der Bewegung im Raum stetig ändert, die Gestalt des Wandersmanns von Ort zu Ort also ganz unterschiedlich aufgefasst wird: Während Holzach in den Großstädten als Penner auf Ablehnung stößt, ist er im Sauerland ein Vorbild, an dem sich die Jugend ein Beispiel nehmen sollte. Vor einem Kloster ruft seine ärmliche Erscheinung die Erinnerung an den Heiland wach. Und in den vielen Unterkünften für Obdachlose hat er oft Angst, von den wirklich Elendigen als Sohn aus gutem Hause entlarvt zu werden. Aber Holzach ist ein Chamäleon. Er sei ein Wanderer zwischen den Welten, sagt er einmal von sich selbst, in diesem Spannungsverhältnis lebe es sich wie im Rausch, "schwebend, ungebunden, frei, weil man in Gedanken immer schon woanders ist, selbst die schlimmsten Entbehrungen lassen sich in einem solchen Zustand aushalten, sind sie doch selbstgewollt, gehen sie doch alle vorüber, haben sie doch nichts Endgültiges" (S. 232). Michael Holzach ist im Alter von 36 Jahren gestorben, bei dem Versuch, seinen Hund aus der Emscher zu retten. Am 21. April 1983 – er war gerade in Dortmund auf Motivsuche anlässlich der geplanten Verfilmung seines Buches – rutschte Feldmann an einer betonierten Uferböschung in den Abwasserkanal; Holzach sprang seinem treuen Weggefährten nach, stieß mit dem Kopf an einen Flusspfeiler und ertrank. Dieser Unfall hat etwas von einer Tragikkomödie an sich. Komisch mutet er an, weil die Emscher alles andere als ein reißender Fluss ist und Holzach ein Zwei-Meter-Hüne; außerdem überlebte der Hund sein Herrchen, denn Feldmann konnte letztlich von der Feuerwehr gerettet werden. Tragisch ist der Ort, an dem er verstarb. Die Gegend entlang der Emscher hat Holzach in seinem Roman mit einer aufdringlichen Symbolik versehen; sie gilt ihm als Beweis, dass der Mensch der ärgste Feind der Natur ist. Der Emscherquellhof am Anfang: "ein kristallklarer See, auf dem sich perlweiße Gänse tummeln. Am Ufer prächtige alte Kastanien, Ulmen, Eschen. Ländlicher Frieden, wie man ihn selbst im Sauerland suchen müsste." Der Bach plätschert "unschuldig zwischen Hecken und Sträuchern am Rande eines Feldes entlang. Das Wasser ist klar, einige Steine des Bachbetts sind von grünen Algen verfärbt, ein Rinnsal im Allgäu kann nicht sauberer sein. Doch dann, hinter einem dichten Gestrüpp, ein großes schwarzes Loch, und die Emscher ist verschwunden, in einem Kanalisationsrohr unter die Erde getaucht, einfach weg." Spielende Kinder schicken "Totenbällchen" durch den Hades, doch nur eins der fünf Papierkugeln kommt am anderen Ende wieder zum Vorschein und wird kurz darauf von der Strömung in Stücke gerissen. "Jetzt hat die Emscher ihre Unschuld verloren, denke ich, es fängt ja oft ganz harmlos an. Bis zu den nächsten Papierfetzen ist es nicht mehr weit, dann kommt die erste Zigarettenschachtel, die erste Coca-Büchse, ein Nylonstrumpf ist an einem Ast hängengeblieben und windet sich wie eine Schlange. Die Besiedlung am Ufer nimmt zu. Aus der Böschung ragen kleine Tonröhren, aus denen es unheilverkündend herauströpfelt, zunehmend verlieren die Algen an Farbe, zunehmend wird das Wasser trübe: das Totenreich – schon wenige Meter von der Quelle entfernt kündigt es sich an." (S. 102–104) Ich selbst bin die Strecke von Holzwickede bis Dortmund-Mengede abgelaufen, erschüttert und verwirrt von dieser unheimlichen Vorwegnahme. Zwischen all den Joggern und Fahrradfahrern war ich der einzige Spaziergänger. Dass dem Kapitalismus auch eine grüne Maske steht, konnte Holzach zu seiner Zeit noch nicht ahnen. Die Kloake des Ruhrgebiets wurde inzwischen renaturiert und zu einem Teil des Naherholungsgebietes Phoenix-See. Die Stelle, an der Holzach verunglückt ist, konnte ich nicht ausfindig machen, nirgendwo eine Gedenktafel, die an den Verstorbenen erinnert: Der Tod ist überall. Stattdessen gibt es in Dortmund-Mengede den Michael-Holzach-Weg – eine Sackgasse aus Einfamilienhäusern. Hier habe ich kehrt gemacht. In der Innenstadt sah ich auf dem Westenhellweg einen Obdachlosen bei Görtz sitzen. Es war ein noch junger Mann, ungefähr in meinem Alter. Ich zögerte; dann holte ich meine Ausgabe von Deutschland umsonst aus dem Rucksack und als der Bettler das Buch mit fragendem Blick entgegennahm, wandte ich ihm wortlos den Rücken. © TourLiteratur
/ Autor Bild oben: Anmerkungen [1] Michael Holzach, Deutschland umsonst. Zu Fuß und ohne Geld durch ein Wohlstandsland, 14. Aufl. Hamburg 2010, S. 28. [zurück] [2] Holzach besuchte das Internat in Holzminden nicht nur auf dem Hin- und Rückweg seiner Deutschlandreise, auf seinen Wunsch hin wurde er dort auch begraben. [zurück] [3] Bis zu seinem frühzeitigen Tod wohnte Holzach dort zusammen mit seiner Lebensgefährtin Freda Heyden. [zurück] [4] Holzach war als Journalist für die ZEIT tätig und verfasste in den 1970er-Jahren einige Artikel über Gastarbeiter, Arbeitslose, Chile-Flüchtlinge und jugendliche Trinker. [zurück] [5] Gustav, die Ratte ist ein Obdachloser, den Holzach zum Thema Nichtsesshafte interviewt hatte ("Betteln ist schwerer als arbeiten", in: ZEITmagazin Nr. 36/29 August 1975, S. 5-12; wiederaufgenommen in: Michael Holzach/Timm Rautert, Zeitberichte, hrsg. von Freda Heyden, München 1985). [zurück] [6] Der Unterschied zwischen den zwei Büchern besteht darin, dass sich die Perspektive bei Kracht vom Vagabunden zum Touristen hin verlagert. "Die Welt des Touristen ist einzig und allein nach ästhetischen Kriterien strukturiert (...). Im Gegensatz zum Vagabundenleben stören hier keine zähen und rauen, der ästhetischen Formung widerstehenden Wirklichkeiten." (Zygmunt Bauman, "Vom Pilger zum Touristen", in: Das Argument 36 (1994) 3, S. 389-408, hier: 401). [zurück] |