Aufsätze > Frei sein, aber wozu? Sartres "Zeit der Reife" |
Frei sein, aber wozu? Von M. A. Sieber "Ich hab nichts zu verteidigen: ich bin nicht stolz auf mein Leben ... Für mein Leben gern möcht’ ich meine Freiheit gegen eine Gewißheit eintauschen. Ich würde nicht mehr verlangen, als mit euch zu arbeiten – das würde mich ändern, ich muß mich ein bißchen vergessen. ... ich kann mich nicht binden, ich hab’ nicht genug Gründe dafür. ... Wenn ich anfinge, mit erhobener Faust zu marschieren und die Internationale zu singen, und wenn ich mich damit zufrieden gäbe, dann würde ich lügen."
Man kann die Wege der Freiheit folglich als literaturhistorisches Dokument einer bestimmten Epoche lesen, in der sich Sartre mit dem Kommunismus auseinandersetzt und allgemeine Fragen nach dem Verhältnis von Individualität und Gemeinschaft mithilfe unterschiedlich positionierter Romanfiguren diskutiert. Wem das zu langweilig ist, dem bleibt noch der ganze Rest: Eine mit Philosophie angereicherte "erzählerische Seelenwanderung" (Blanchot) oder eine Art "Himmel über Paris", bei der man in die Gedankenwelt der Figuren hineingesogen und von einem absoluten Bewusstsein wiederum in ein anderes geschleudert wird. Wer einmal von dieser Art Situationsroman ohne inneren Erzähler noch allwissenden Zeugen, in dem kein Bewusstsein gegenüber dem Ereignis noch gegenüber sich selbst einen privilegierten Standpunkt einnimmt (wie Sartre in Was ist Literatur? postulierte), wer also von diesem unvermittelten Schreibstil angetan ist, der wird mit Mathieu, Daniel, Boris und Brunet auch in den Krieg ziehen und ihre dortigen Verwandlungen miterleben wollen. Denn Sartres Figuren sind ohne Innerlichkeit und ohne Programm, von denen man, wie Bernhard-Henri Levy schreibt, nie zuvor weiß, was sie sind, bevor sie nicht gehandelt haben: als freie Künstler ihres Selbst improvisieren unablässig ihr Sein. [4] Dies würde auch die Faszination erklären, die noch heute von diesem Band ausgeht. Die Atmosphäre in Zeit der Reife entspricht wohl am ehesten unserem postmodernen Lebensgefühl. Was ist unsere mühsam erlernte Illusionslosigkeit (idealistischen Großprojekten gegenüber) anderes, als die Leere der Freiheit, die hier von den Figuren bis an den Rand der Unerträglichkeit durchlebt wird? Ob der zweiflerische Philosophielehrer Mathieu (Sartre selbst, außer seiner Leidenschaft fürs Schreiben), Daniel, der inverti maudit, ob Marcelle, Boris, Ivich oder der Kommunist Brunet, jeder hat dort seine alltäglichen wie außeralltäglichen Probleme, jeder nutzt die Freiheit auf seine eigene Art und Weise – und wer könnte sich anmaßen, darüber zu urteilen, welcher Entwurf dieser traurigen Gestalten nun letztlich der bessere wäre? Dazu müsste man wissen, wohin alle sich wahllos aneinanderreihenden Begebenheiten unseres Lebens am Ende führen werden. Kurzum: Wir Heutigen befinden uns in einer ähnlichen "Verdreckung", in der sich Sartre zum damaligen Zeitpunkt der Niederschrift (während der trügerischen Windstille der Jahre 1937/38) befand – nur dass wir in einer globalisierten Welt sicherlich nicht mehr die Illusion einer nach außen hin völlig abgeschlossenen, individuellen Geschichte haben, wie Sartre im Ankündigungstext des Romanzyklus noch schreiben konnte. [5] Frei sein, aber wozu? – diese Frage stellt sich nach wie vor. In unsere Zeit übersetzt: Wir alle stehen unter dem Druck, unser Leben führen und die richtigen Entscheidungen für die eigene Selbstgestaltung treffen zu müssen. Doch auch bei der ersehnten Selbstverwirklichung ist der Tod die Anti-Utopie schlechthin: "Über alle Wahlen ist das melancholische Bewußtsein verhängt, daß es angesichts einer endlich bemessenen Lebenszeit für Revisionen zu spät sein könnte." [6] © TourLiteratur
/ Autor Cover: Anmerkungen [1] Jean-Paul Sartre: "Sartre über Sartre (1969). Interview mit new left review", in: Sartre über Sartre. Aufsätze und Interviews 1940–1976. Autobiographische Schriften Bd. 2, Reinbek bei Hamburg 1988, S. 163–187, hier: 164. [zurück] [2] "Maurice Blanchot über den Romanzyklus Die Wege der Freiheit", in: Beiheft zu Jean-Paul Sartre: Gesammelte Werke Bd. 2. Romane und Erzählungen, S. 13–19, hier: 19. Ganz ähnlich äußert sich Adorno in seinem Portrait von Thomas Mann: Der Gehalt eines Kunstwerks beginnt genau dort, "wo die Intention des Autors aufhört; sie erlischt im Gehalt." (Theodor W. Adorno, "Zu einem Porträt Thomas Manns", in: Ders., Noten zur Literatur, Gesammelte Schriften, Band 11, 4. Aufl. Frankfurt am Main 2012, S. 335–344, hier: 336.) [zurück] [3] Vgl. Susanne Möbuß: Sartre, Freiburg im Breisgau 2000, S. 101. [zurück] [4] Vgl. Bernard-Henri Lévy: Sartre. Der Philosoph des 20. Jahrhunderts. München 2005, S. 69. [zurück] [5] Vgl. Jean-Paul Sartre: "Ankündigungstext zum Romanzyklus Die Wege der Freiheit", in: Beiheft zu Jean-Paul Sartre: Gesammelte Werke Bd. 2. Romane und Erzählungen, S. 10–13. [zurück] [6] Gerhard Gamm, "Die Vertiefung des Selbst oder das Ende der Dialektik", in: Identität Leiblichkeit Normativität. Neue Horizonte anthropologischen Denkens, hrsg. von Annette Barkhaus, Matthias Mayer u.a., Frankfurt am Main 1996, S. 341-357, hier: 345. [zurück] |