Rezensionen > Amila, Jean: Mitleid mit den Ratten |
Eine Frage der Moral Mit "Mond über Omaha" hat der Saarbrücker CONTE Verlag 2005 dem deutschen Leser einen Autor wieder zugänglich gemacht, der zu den bekanntesten Vertretern des "roman noir" gehört: Jean Amila (1910 - 1995, eigentlich Jean Meckert). Das raffinierte, von einem Übersetzerkollektiv des Fachbereichs Angewandte Sprach- und Kulturwissenschaften der Universität Mainz/Germersheim elegant ins Deutsche übersetzte Kammerspiel schaffte es damals nicht zu Unrecht auf die renommierte Krimiwelt Bestenliste und machte Appetit auf mehr. Dem wird mit "Mitleid mit den Ratten" nun entsprochen. Doch sagen wir es gleich vorweg: Die Qualität seines Vorgängers erreicht der "neue" Amila - im französischen Original erschien er erstmals 1964, also im selben Jahr wie "Mond über Omaha" - leider nicht. Dabei sind die Geschichte, die er erzählt, und das Problem, welches diese aufwirft und diskutiert, dem, was unsere Gegenwart umtreibt, durchaus nicht so fern. Wir lernen nämlich eine Familie von Kleinkriminellen kennen, die es plötzlich mit Vertretern des organisierten Terrorismus zu tun bekommt. Und sofort taucht die Frage auf, ob es graduelle Abstufungen unter gegen bestehendes Recht begangenen Taten entsprechend des ihnen jeweils zugrundeliegenden Motivs gibt. Anders gesagt: Darf der mit einem politischen Sendungsbewusstsein ausgerüstete Gewalttäter sich dem schnöden Dieb moralisch überlegen fühlen oder nicht? Die Lenfants - ein sprechender Name, denn die vor den Toren von Paris lebende, harmlose Sippe besteht tatsächlich aus drei naiven, Kindern - l'enfants - nicht unähnlichen Personen - rauben nächtens Häuser aus. Dabei fällt Mutter Yvonne die Rolle derjenigen zu, die die Tatorte vorab auskundschaftet, während Vater Julien und Tochter Solange die Exekutive des Gaunertrios darstellen. Doch weil der Krug bekanntlich nur so lange zu Wasser geht, bis er bricht, ist auch das stille Glück der drei, die ihre Taten durchaus nicht aus Habgier begehen, sondern weil sie sich "anders" fühlen als die Anderen, keine "Dutzendexistenzen" (S. 19) sein wollen, sondern nach "Reinheit" außerhalb der gültigen Gesetze streben, nicht grenzenlos. Eine Nachts sitzt Julien gerade auf einem Dach, kurz davor, sich abzuseilen, da fallen Schüsse und er stürzt, lebensgefährlich getroffen, in die Tiefe. Von da an - es ist die Eröffnungsszene des Romans und sie ist Amila ähnlich atemberaubend, dicht und vielversprechend gelungen wie jene über die Landung der Alliierten am 6. Juni 1944 an einem Strand in der Normandie, aus der heraus sich das Unheil in "Mond über Omaha" entwickelt, nur fehlt halt hier weitgehend die historische Dimension - ist alles anders. Statt in die Hände der Polizei gerät Lenfant an eine Gruppe politischer Aktivisten - von "Algerienfranzosen" und der OAS ist gelegentlich die Rede, wobei die konkreten Ziele der Männer im Dunklen bleiben -, die ihn und seine Familie widerspruchslos vor ihren Karren spannt, weil kleine Diebe für sie wenig mehr zählen als Ratten. Einer der Männer, es ist der, dem Julien sein Leben verdankt, nistet sich gar in dessen Haus ein und hat schon nach kurzer Zeit sowohl die Ehefrau als auch die Tochter zu seinen Geliebten gemacht. Was folgt, ist die langsam heraufdräuende Katastrophe, aus der die Ratten letzten Endes als - lädierte - Sieger hervorgehen. Doch auch die Staatsmacht, die schließlich das Ruder mit einer sinnlosen Polizeiaktion wieder an sich reißt, hat für "Diebsgesindel" (S. 211) nur Verachtung übrig. Das freilich stellt am Ende des Buches noch eine schöne, mit einigen Schwächen fast versöhnende Pointe dar. Alles in allem scheint mir "Mitleid mit den Ratten" zu sehr der Konstruktion zu unterliegen. Nichts ist hier dem Zufall überlassen, das Figurenensemble bis in die kleinste Nebenrolle hinein wie auf dem Reißbrett entworfen. Man nimmt weniger an individuellen Entwicklungen teil, als an der Exemplifizierung und Bebilderung einer These. Deshalb bedarf es einer Sorte von Gaunern, die in der Wirklichkeit - auch jener der Mitte des vergangenen Jahrhunderts - schwer anzutreffen (gewesen) sein dürfte: Romantikern ihres Gewerbes sozusagen, die es nicht interessiert, wieviel Profit der Coup abwirft, sondern die ihr fragwürdiges Handwerk betreiben als "Vorwand für eine zutiefst menschliche Kontaktaufnahme" (S. 82) in einer durch und durch "öden Welt" (S. 45) Deshalb bedarf es eines Terroristentyps, der das Recht für sich in Anspruch nimmt, sich über das Leben und die Gefühle aller anderen Gesetzesbrecher hinwegzusetzen, voller Verachtung ihre Existenz mit Füßen tretend. Und deshalb bedarf es ein paar weniger Figuren, eigentlich sogar nur einer einzigen, die sich müht, den Lenfants das normale, kleinbürgerliche Leben wieder schmackhaft zu machen, ein Ansinnen, das freilich scheitern muss, damit die Katastrophe schlussendlich stattfinden kann. Man findet heute in Kritiken oft die Bemerkung, das in Rede stehende Buch wäre besser, wenn es ein paar Seiten weniger enthielte. Was "Mitleid mit den Ratten" betrifft, plädiere ich für das Gegenteil. Mir fehlen hundert Seiten. Seiten, auf denen der Autor seinen Figuren Gelegenheit gegeben hätte, sich aus sich selbst heraus zu entwickeln. Seiten, wo plötzlich ein Eigenleben sich entfaltet, mit dem Segen des Autors oder eben ohne ihn. Seiten, auf denen wir als Leser begreifen, dass es auch Dinge jenseits jeglichen Konstrukts gibt und dass gerade diese Dinge das Leben in seiner Unvorhersehbarkeit ausmachen. Seiten, wo man schneller atmet, wenn man sie liest und manchmal denkt: Genau so ist es! So ungewollt, so rätselhaft. Offensichtlich hat der Erfolg von "Mond über Omaha" den CONTE Verlag ermutigt, eine kleine Serie mit den fast schon vergessenen Romanen des Jean Amila zu starten. Das ist gut so und hat jegliche Form von Beifall verdient. Aber Vorsicht und Eile mit Weile! Wem das erste Buch gefiel, dem ging es nicht schnell genug mit dem zweiten. Wen dieses nun enttäuscht, der wird, sollte er ihn damals verpasst haben, kaum auf seinen Vorgänger zurückgreifen. Man achte also, bitte, darauf, eine gewisse Höhe für's Erste nicht zu unterschreiten. Auch nicht in der Sorgfalt dem Druck ( in meinem Exemplar gibt es die Seiten 101/02 und 209/10 gleich zwei Mal) und der Übersetzung ("Schlackern" Seile? Freut sich in den Sechzigern wirklich jemand über einen soeben vollzogenen Akt mit dem inneren Jubelschrei "Ich hab gepoppt!"?) gegenüber. In diesem Sinne: Wir warten auf den dritten Streich! Amila hat sicher nicht nur ein einziges geniales Buch geschrieben. Dietmar Jacobsen © TourLiteratur
/ Autor Buchcover: © CONTE Verlag, Saarbrücken |
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