Rezensionen > Büttner, Manfred / Lehmann, Christine: Von Arsen bis Zielfahndung |
Leichen, Mörder, Kommissare - im Roman, im Fernsehen und in Das Szenario ist aus unzähligen Kriminalromanen und TV-Krimis bekannt: Eine Leiche wird entdeckt, Kommissare und/oder Kommissarinnen eilen an den Fundort, verschaffen sich – mehr oder weniger systematisch – einen ersten Überblick, befragen Zeugen, laufen der herbeizitierten "Spusi" im Weg herum und nötigen voller Ungeduld den erst seit wenigen Sekunden über den toten Körper gebeugten Gerichtsmediziner zu umfassenden Diagnosen bezüglich Todesart und Todeszeitpunkt. Das alles wird oft witzig-ironisch oder schaurig-düster, auf jeden Fall unterhaltsam präsentiert. Aber: Entspricht es auch den Tatsachen? Sieht so polizeiliche und ermittlungstechnische Wirklichkeit aus? Ist beispielsweise immer ein Rechtsmediziner vor Ort, wenn ein Toter gefunden wird? Und ein Staatsanwalt oder eine Staatsanwältin? Das hat sich auch Christine Lehmann gefragt. Die erfolgreiche Autorin, bekannt vor allem durch ihre Lisa-Nerz-Krimis, hat sich gemeinsam mit Manfred Büttner, Steuerfahnder und Dozent an den Hochschulen der Polizei und der Steuerverwaltung des Landes Baden-Württemberg, auf Recherchetour durch die Welt des Verbrechens und der institutionalisierten Verbrechensbekämpfung begeben. Zwei wesentliche Erkenntnisse lagen dabei zugrunde. Zum einen: Unsere Vorstellungen von polizeilicher Ermittlungsarbeit sind geprägt durch die von Fernsehen, Kino und Kriminalliteratur vermittelten Muster. Und zweitens: Diese Muster haben in der Regel kaum etwas mit der Alltagsrealität von Kripobeamten und -beamtinnen, Staatsanwälten, Richtern, Privatdetektiven oder Pathologen zu tun. Herausgekommen ist ein äußerst nützliches Nachschlagewerk für angehende und bereits etablierte Kriminalschriftsteller und -schriftstellerinnen, zugleich ein spannendes Lesebuch, das an Informationsfülle, Originalität und Unterhaltungswert seinesgleichen sucht. Wie gehen die Autoren vor? Aus der intensiven Betrachtung des "massenhaften Output[s] kommerzieller und serieller Krimischreiber/innen", also aus der Analyse zahlreicher (nicht selten schlechter) Krimis haben sich für Manfred Büttner und Christine Lehmann drei Leitfragen ergeben, welche die Struktur ihres Buches bestimmen: Erstens: "Ist das [im Buch oder im Film] vorgeführte Motiv wirklich ein Grund zu töten?" Zum zweiten: "Geht das mit der Leiche wirklich so?" Und drittens: "Ist die Polizei wirklich so unbedarft?" So werden am Anfang unterschiedliche Mordmotive und Tötungsarten erläutert (vom Erschießen und Erstechen bis Ersticken und Verbrennen), wobei den perfiden Spielarten des Giftmordes allein 25 Seiten gewidmet sind. Die weiteren Kapitel gehen mit großer Sachkenntnis auf die Themen Ermittlungsarbeit (Tatortuntersuchung, Obduktion, Kriminaltechnik, Spurensuche), Fallanalyse (etwa Profiling, Tätertypen etc.) und Zwangsmaßnahmen (Festnahme und Verhaftung, Vernehmung, Untersuchungshaft, heimliche Überwachungen, Durchsuchungsbeschlüsse u.ä.) ein. Weitere Abschnitte beschäftigen sich mit dem Opfer (z.B. eindeutige und uneindeutige Todeszeichen, Leichenstarre, äußere und innere Leichenschau) sowie dem Aufbau und der Struktur von Polizeiapparat und Justiz. Außerdem werden Einblicke in den Bereich der Wirtschaftskriminalität gewährt, aufschlussreiche Fakten zu Kampftechniken der Polizei, Amnesiegraden bei Tätern und Opfern und Zeugenbefragungs-Techniken geliefert und die möglichen Tatmotive und psychischen Dispositionen von Serienmörderinnen und Pädokriminellen beleuchtet. Es ist vor allem die große Fülle an Details, die beeindruckt und das Buch so lesenswert macht. So ist beispielsweise zu erfahren, dass die Augen einer Leiche nicht weit aufgerissen sind (wie bei einer effektvoll drapierten TV-Toten), sondern tatsächlich nur einen Spaltbreit offen stehen. Oder dass bei einem Mord mit einer Pistole zwischen Fernschuss, Nahschuss und angesetztem (nicht, wie oft zu hören und zu lesen ist: aufgesetztem) Schuss unterschieden wird und dass keineswegs die Ausschusswunde immer größer ist als die Einschusswunde – beim angesetzten Schuss etwa ist es genau umgekehrt. Im – verständlicherweise –umfangreichen Kapitel "Der Mord" ist nachzulesen, dass sich im Blut von Wasserleichen bestimmte Kieselalgenarten ablagern, die eine Aussage darüber erlauben, wo genau der Mensch ertrunken ist. Polizisten untereinander, um ein abschließendes Beispiel anzufügen, duzen sich grundsätzlich, auch wenn sie sich persönlich nicht kennen und ein „Über-Unterordnungs-Verhältnis“ besteht. Der Funkverkehr bildet eine Ausnahme, hier sind alle Beamten und Beamtinnen ausnahmslos per Sie. Natürlich ist die Frage nicht ganz unberechtigt, ob denn Krimiautorinnen und Krimiautoren das alles wirklich wissen müssen und in ihren Romanen, Erzählungen und Drehbüchern beherzigen sollten. Schließlich macht der Krimi kein Geheimnis um seinen fiktionalen Charakter, wie es überhaupt in der Literatur nicht um eine exakte Widerspiegelung realer Verhältnisse geht. Das sehen erfreulicherweise auch die beiden Autoren des Handbuchs so. Die Eigenständigkeit der literarisch-filmischen Wirklichkeit, die Berechtigung auch spektakulärer dramaturgischer Kniffe, die moderate Realitätsbeugung zugunsten einer spannenden Handlungsführung – das alles wird von ihnen nachgerade betont: Krimischriftsteller sollen nicht am Gängelband des Realistischen gehalten werden. Vielmehr soll die "Wahrheit des Fiktiven", die dichterische Freiheit, von einer Wahrheit des Faktischen flankiert werden, um die Glaubwürdigkeit des Kunstprodukts zu erhöhen, aber auch, um ein falsches, ein verzerrtes Bild unseres Rechtsstaats und seiner Untersuchungsorgane gar nicht erst entstehen zu lassen. Gerade auf diesen Punkt legen Büttner und Lehmann großen Wert. Es müsse einfach klar sein – und auch und gerade im Krimi deutlich gemacht werden –, dass es hierzulande Verhaftungen ohne Angaben von Gründen, erpresste oder durch Taschenspielertricks erschlichene Geständnisse oder Hausdurchsuchungen ohne richterliche Anordnungen nicht gibt - auch wenn dies manche "Tatort" - oder "Polizeiruf"-Folge aus effektheischenden Gründen suggeriere. Das muss im Übrigen, davon sind die beiden zurecht überzeugt, nicht dazu führen, dass genretypische, von der Leserschaft und dem Fernseh- und Kinopublikum erwartete Elemente (Originalität des Plots, Spannung, Suspense, überraschendes Ende, glaubwürdige Figurenzeichnung usw.) auf der Strecke bleiben, ganz im Gegenteil: Eine verstärkte Orientierung am realen Polizeialltag und an der Ermittlungswirklichkeit eröffnet möglicherweise andere, bisher nicht gekannte oder in Betracht gezogene Sichtweisen, die helfen können, völlig neue, noch raffiniertere, noch ungewöhnlichere, letztlich noch lesenswertere Storys zu konstruieren. Manfred Büttner und Christine Lehmann haben ein ebenso informatives wie unterhaltsames Handbuch vorgelegt, das auch noch der nächsten Generation an Krimischreiberinnen und Krimischreibern als grundlegendes Kompendium dienen dürfte. Die einzelnen Kapitel sind übersichtlich strukturiert, die Informationen umfassend, präzise, in kompakter Form präsentiert und auf dem neuesten Stand, die Sprache angenehm klar und verständlich. Mit "Von Arsen bis Zielfahndung" und dem vor ein paar Jahren erschienenen Band "Das Wort zum Mord. Wie schreibe ich einen Krimi" von Anja Kemmerzell und Else Laudan, der inzwischen in der vierten Auflage vorliegt, hat der Hamburger Argument Verlag nun ein unschlagbares Ratgeber-Duo zum Krimi aufzuweisen, das selbst für versierte Schreiber und für ausgewiesene Kenner des Genres noch überraschende Erkenntnisse, Tipps und Anregungen bereithält. © TourLiteratur
/ Autor Buchcover: © Argument Verlag mit Ariadne, Hamburg |
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