Rezensionen > French, Tana: Sterbenskalt |
"Es gibt kein mächtigeres Passwort als die Vergangenheit" Auch in ihrem dritten Roman nach "Grabesgrün" (2007) und "Totengleich" (2008) hält Tana French an der Methode fest, eine Figur des Vorgängerbuches zum Ich-Erzähler - in "Totengleich" war es eine Erzählerin - des Nachfolgers zu machen. Diesmal ist es Detective Francis (Franck) Mackay, der den Undercovereinsatz der jungen Polizistin Cassie Maddox in "Totengleich" initiierte und aus der Ferne überwachte. Er selbst, Anfang 40, gehört in seiner Abteilung bei der Dubliner Polizei längst zu jenen, die sich nicht mehr selbst in die Reihen welches Gegners auch immer einschmuggeln, um unter Einsatz ihres Lebens die Kriminalität sozusagen an ihren Wurzeln zu bekämpfen. Nach ein paar gelungenen Einsätzen ist das Risiko aufzufliegen für ihn zu groß geworden. Und so lenkt er von seinem Schreibtisch aus inzwischen die Operationen, in denen andere ihren Kopf hinhalten. Der Originaltitel von Sterbenskalt lautet "Faithful Place". Es ist der Name einer - halb fiktiven - Straße in den Liberties auf der Südseite des Liffey-Flusses, der Dublin teilt. In der kleinen Sackgasse mit gerade einmal 16 Häusern - acht auf jeder Straßenseite - ist Francis aufgewachsen. Zusammen mit zwei Brüdern und zwei Schwestern in einer Familie, die von einem alkoholkranken Vater terrorisiert wurde, dem die Mutter wenig mehr entgegenzusetzen hatte als stete Schlechtgelauntheit und Missbilligung von allem und jedem. Mit 19 hat es der junge Mackay in den deprimierenden Verhältnissen seines Elternhauses nicht mehr ausgehalten und ist heimlich über Nacht verschwunden. Jetzt, 22 Jahre später, kehrt er nach Faithful Place zurück. Denn das Mädchen Rosie, das ihn auf seiner Flucht eigentlich begleiten wollte, bevor es ihn in letzter Minute im Stich ließ, wie er all die Jahre über dachte, scheint die Gegend nie verlassen zu haben. Erst findet man bei Abbrucharbeiten in der Nummer 16, einem schon lange leer stehendem Anwesen, in dem die Jugendlichen der Straße sich in ihrer Freizeit immer getroffen haben, ihren Koffer, später dann eine Leiche, bei der es sich nur um das lebensfrohe Mädchen mit den roten Locken handeln kann, das Franck Mackay einst ewige Liebe geschworen hatte. Es ist eine typische Tana-French-Situation, die auch den dritten Roman der heute in Dublin lebenden jungen Bestsellerautorin in Fahrt bringt. Da taucht plötzlich in der Gegenwart ein Stück Vergangenheit auf. Und der Held des Buches sieht sich unerwartet konfrontiert mit Zeiten, Personen und Ereignissen, die er am liebsten für immer ganz tief in sich verschlossen hätte. Der Schock aus dem Gestern ist allerdings so stark, dass er die Kraft aufbringen muss, sich den Dämonen, die er ein für allemal hinter sich gelassen zu haben glaubte, stellen muss - ob er will oder nicht. Im Falle von Franck Mackay bedeutet das, nach 22 Jahren - in denen er seine Eltern nicht sah und von den vier Geschwistern nur Kontakt zur jüngeren Schwester Jackie hatte, in denen er heiratete, eine Tochter bekam, die in der Gegenwart neun Jahre alt ist, und sich wieder scheiden ließ und in denen er keine Sekunde den Verrat seiner Jugendliebe vergessen konnte und noch immer darauf wartet, dass sie wieder in sein Leben tritt - zurückzukehren an einen Ort, den er eigentlich nie wieder aufsuchen wollte. Schnell wird ihm allerdings klar, dass er als Polizist hier nichts ausrichten kann und die Ermittlungsarbeit an dem Mord - denn um einen solchen handelt es sich offensichtlich, das Mädchen wurde brutal erwürgt und dann im Keller des einsamen Gebäudes unter einer Zementplatte verscharrt - den dafür zuständigen Beamten überlassen muss. Dass die ihn selbst zunächst mit zu den Verdächtigen zählen, kümmert ihn wenig. Ihn plagt schon bald ein anderer Verdacht: Was, wenn der Täter unter seinen eigenen Familienangehörigen zu suchen ist? Aus dieser Grundkonstellation macht Tana French einen Roman von fast 600 Seiten, in dem sie eine Spannung erzeugt, die nie nachlässt. Auch nicht, wenn der Leser bald ahnt, was sich in jener Nacht vor 22 Jahren im Haus mit der Nummer 16 abgespielt haben könnte. Auch nicht, wenn der Kreis der Verdächtigen von Anfang an schon nicht sehr groß ist und sich nach dem Tod von Mackays jüngerem Bruder Kevin, der im selben ominösen Gebäude aus dem Fenster stürzt - ein vorsätzlich geplanter zweiter Mord, wie sich schnell herausstellt -, noch weiter verkleinert. Denn was vor mehr als zwei Jahrzehnten geschah, ist das eine. Wie ein Mensch mit seiner Vergangenheit ringt, die er eigentlich komplett dem Vergessen überlassen wollte, das andere. Und genau hier setzt Tana French an. Schickt ihren Helden - undercover sozusagen - zurück in ein Gestern, an dem er, wie sich herausstellt, noch mit vielen Fasern hängt und in dem nur ein Zufall ihn davor bewahrt hat, sich selbst mit einer nie wieder gut zu machenden Schuld zu beladen. "Sterbenskalt" ist kein Roman, der auf Action setzt. Die Wucht, mit der er die Verhältnisse innerhalb einer Dubliner Arbeiterfamilie auslotet, rechtfertigt es gar, wenn man ihn nicht nur in jene Traditionslinie der britischen Kriminalliteratur stellt, die den klassischen Whodunit mit psychologischen Tiefenstrukturen auflud und ihn damit modernisierte, sondern auch in die des englischen Sozialromans, der seit dem 19. Jahrhundert über die Beschreibung der Verhältnisse an der Basis der Gesellschaft auch deren Kritik betrieb. Dass Tana French noch dazu eine vorzügliche Schreiberin ist, sollte übrigens auch jenen Lesern auffallen, für die "Stil" nicht zu den herausragenden Kennzeichen eines Thrillers gehört. Einfach wieder zum Krimi-Tagesgeschäft überzugehen, dürfte nach diesem sprachlichen Highlight jedenfalls schwierig sein. Dietmar Jacobsen © TourLiteratur
/ Autor Buchcover: © Fischerverlage / Scherz Verlag, Frankfurt/Main |
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