Rezensionen > Sebestyén, György: Reise durch das Tauwetter |
Die senkrechte Bewegung des Schädels Er galt als leidenschaftlicher Mittler zwischen Ost und West: György Sebestyén, 1930 in Budapest geboren, 1990 nicht einmal 60-jährig in Wien gestorben, wuchs zweisprachig, mit der ungarischen und der deutschen Sprache, auf, war Mitglied der Kommunistischen Partei, wurde durch die Zerschlagung des Ungarn-Aufstands im Jahr 1956 eines Besseren belehrt, floh nach Österreich und etablierte sich dort rasch als Romancier, Essayist und Übersetzer und als umtriebiger Journalist und Herausgeber verschiedener literarischer Zeitungen, etwa der renommierten "Pannonia", dem "Magazin für europäische Zusammenarbeit", in dem er ab 1972 Autorinnen und Autoren aus so ziemlich allen Staaten des damaligen Warschauer Paktes zu Wort kommen ließ. 1963 nahm er die österreichische Staatsbürgerschaft an, von 1988 bis zu seinem Tod war er Präsident des P.E.N.-Clubs Österreichs. Seinen ersten Roman "Die Türen schließen sich", 1957 in deutscher Übersetzung erschienen, verfasste Sebestyén noch auf Ungarisch. Für alle nachfolgenden Werke wählte er die deutsche Sprache, für die Romane "Die Schule der Verführung" (1964) und "Thennberg oder Versuch einer Heimkehr" (1969) beispielsweise, für seine vor allem in den 1960er- und 1970er-Jahren entstandenen Hörspiele oder für die viel beachteten Essays, etwa "Parole Widerstand" (1977) und "Das Leben als schöne Kunst" (1988). Im Jahr 1965 erschien bei Kurt Desch in Basel der Band "Flötenspieler und Phantome. Eine Reise durch das Tauwetter", der sehr persönliche und scharfsinnige Bericht einer ausgedehnten Reise durch die Tschechoslowakei, durch Jugoslawien, Ungarn, Rumänien, Bulgarien und Albanien. Der seit einigen Jahren höchst ambitioniert im beschaulichen Drösing (Niederösterreich) agierende Driesch Verlag hat nun einen Teil des Buches unter dem Titel "Reise durch das Tauwetter" neu herausgegeben, das ursprüngliche Kapitel "Tschechoslowakei" nämlich, das hier zugleich erstmals auch als tschechische Übersetzung ("Když nastala obleva") erscheint, für die Helena Tesariková verantwortlich zeichnet. Haimo L. Handl, Herausgeber des Bandes und Leiter des Driesch Verlags, macht übrigens in seinem instruktiven Vorwort darauf aufmerksam, dass Sebestyén bis heute in den Ländern Osteuropas nahezu unbekannt ist, weil Übertragungen fehlen. Mitte der 1960er-Jahre – Stalin war seit mehr als zehn Jahren tot – regten sich in den Ländern des Ostblocks zarte Hoffnungen auf eine allmähliche, wenn auch zaghafte Demokratisierung der Gesellschaft. In Ungarn etwa kam es unter Ministerpräsident János Kádár, dem Nachfolger des im Zuge des Ungarn-Aufstands hingerichteten Imre Nagy, zu vorsichtigen Liberalisierungen in einigen Bereichen, insbesondere auf dem wirtschaftlichen Sektor. In der Tschechoslowakei erwiesen sich die autoritären Strukturen als äußerst zäh. Hier war der Stalinist AntonÃn Novotný seit 1953 Generalsekretär der KP und ab 1957 auch Staatspräsident. Novotnýs repressive Politik wurde allerdings auch in Regierungskreisen seit etwa 1964 zusehends kritisch bewertet, zum Teil auch unter dem Einfluss Jozef Lenárts, der seit 1963 als Ministerpräsident und demzufolge Regierungschef fungierte und der in Intellektuellenkreisen als Gegner des Stalinismus und Befürworter einer gemäßigten Reformpolitik galt – was sich, nebenbei bemerkt, als Trugschluss erweisen sollte: 1968 gehörte Lenárt zu den Befürwortern des sowjetischen Einmarsches in Prag. György Sebestyén will es genau wissen: Wie stark ist das "Walten der Gespenster längst verstorbener Ideen" noch? Wie ausgeprägt, wie verbreitet ist der "Wunsch nach der jenseits der Dogmen liegenden Wahrheit"? Und: Wie sehr taumele ich selbst noch im "Labyrinth der Vorurteile" herum? Im Jahr 1964 bricht er auf zu seiner Erkundungstour, die ihn u.a. in die Tschechoslowakei führt – und mitten hinein in ein Land zwischen vergangenheitsverhaftetem Dogmatismus, gedämpfter Aufbruchseuphorie und melancholischer, zuweilen zynischer Skepsis. Oberplan (Hornà Planá), Krumau (Ceský Krumlov), Prag und Pressburg (Bratislava) sind die Stationen der Reise. In sprachlich subtil gestalteten Episoden schildert Sebestyén Begebenheiten und Begegnungen insbesondere mit der intellektuellen Elite des Landes. Die will den altbekannten Parolen nicht mehr folgen, sich vielmehr aufs eigene Urteil verlassen, an der Oberfläche kratzen, die Wahrheit in der Vielfalt suchen. Sebestyén trifft so unterschiedliche Persönlichkeiten wie den Dramatiker FrantiÅ¡ek Langer, der mit seiner 1929 erschienenen Komödie "Das Kamel geht durch das Nadelöhr" auch im deutschsprachigen Raum bekannt wurde, außerdem den lange Zeit verbotenen Avantgardekünstler Mikulas Medek, der zusammen mit FrantiÅ¡ek Muzika, dem Sebestyén ebenfalls begegnet, zu den bedeutendsten Vertretern der tschechischen Malerei im 20. Jahrhundert gehört. In Prag trifft er u.a. die jungen Filmemacher Jiřà BrdeÄka und Jiřà Trnka, einen Pionier des Animationsfilms, außerdem den Schauspieler Jan Werich, der in Deutschland vor allem durch seine Mitwirkung in zahlreichen der berühmten tschechischen Märchenfilmen und dem Kinderfilmklassiker "Pan Tau" bekannt ist, sowie den Literaturwissenschaftler und Kafka-Forscher Eduard Goldstücker und den Liedermacher Jiřà Slitr. Und auch in Pressburg kommt es zu intensiven Gesprächen mit Literaten wie Karl Rosenbaum und Ján Smrek. Dort trifft er auch den hohen Staatsfunktionär Dr. D.B., einen freundlichen, kunstsinnigen Schöngeist, der es verstanden hat, sich durch alle bisherigen politischen Systeme seines Landes hindurchzumogeln, ein "Herrenreiter des politischen Schicksals", wie ihn Sebestyén nennt, der, wie er versichert, einfach nur überleben, sich seine Vernunft bewahren will, ohne sie an die große Glocke zu hängen, und ansonsten versucht, immer wieder als Sieger aus diesem "Spiel auf Leben und Tod" herauszukommen, und zwar ohne Gewissenskonflikte. Der Preis, so Dr. D.B., sei die Einsamkeit, der Gewinn ein Leben in Ruhe und Behaglichkeit. Mit heiter-melancholischer Ironie legt er am Ende seinem Gesprächspartner den Beitritt zum "Weltverband der gefühlsbetonten Zyniker" nahe. "Ganze Regimes", konstatiert Sebestyén nüchtern, "können sich auf solche wandernden Säulen stützen". Und: "Die senkrechte Bewegung des Schädels ist leichter als die waagrechte, aus Gründen der Schwerkraft; vielleicht ist es dieses physische Gesetz, das die Menschen so oft ja sagen lässt und damit das Entstehen von Diktaturen ermöglicht." György Sebestyén – das ist seine große Stärke – lässt sich auf sein jeweiliges Gegenüber ein, hört zu, versucht zu verstehen, nicht zuletzt auch sich selbst. Er sucht die Wahrheit "unterhalb der dünnen Schicht des politischen Alltags" und muss erkennen, dass seine eigenen ideologischen Überlegungen nicht selten einseitig, vorschnell, übereilt waren. Was er anstrebt, ist nichts weniger als Abstraktionen und Einseitigkeiten zu verabschieden, Vorurteilsballast abzuwerfen, den Blick für die Einzelheiten zu schärfen, die "persönliche Existenz" hinter der "unpersönlichen Macht" zu entdecken. Das ist ihm, wie die Lektüre zeigt, in beeindruckender Weise gelungen. Die Anfänge der politischen Umwälzungen der Jahre 1989/90, das vehemente Aufbegehren der Bevölkerung der Ostblockstaaten gegen Gängelung, Bevormundung, Verfolgung und Kriminalisierung demokratischer Gesinnung hat György Sebestyén noch erlebt, die sozio-ökonomischen und kulturellen Neugestaltungen und die damit nicht selten einhergehenden Verwerfungen nicht mehr. In einem seiner letzten Beiträge für die "Pannonia", im Artikel "Pannonien, mon amour", erschienen im Doppelheft 3/4 des Jahrgangs 1990, schreibt Sebestyén über die aktuelle Lage in Osteuropa: "Erst jetzt heben sich die Nebel, und wir können uns endlich nüchtern und realistisch mit der tatsächlichen durch den Anspruch auf Totalität nicht länger deformierten Wirklichkeit befassen." Dass die neue Wirklichkeit sehr rasch durch ganz andere Interessengruppen 'deformiert' werden sollte, konnte er da noch nicht ahnen. Alles in allem: Die Neuedition eines Teils des Reiseberichts Sebestyéns von 1965 ist in jeder Hinsicht lobenswert. Sie lässt eine Zeit lebendig werden, die unter dem gewaltigen Eindruck der Ereignisse von 1989/90 weitgehend in Vergessenheit geraten ist. Sie vergegenwärtigt die analytische Schärfe und stilistische Originalität eines Schriftstellers, der nicht mehr allzu fest im literarischen Bewusstsein der Gegenwart verankert ist. Und sie macht Lust, große Lust sogar – auf die übrigen Teile des Buches. © TourLiteratur
/ Autor Buchcover: © Driesch Verlag, Drösing |
Links zum Autor Biografischer Artikel von Günter Unger auf "Koschere Melange - Das Blog des Österreichischen Jüdischen Museums" "Der donauländische Kentaur" – Artikel zu György Sebestyén von Ingrid Schramm auf den Sonderseiten der Wanderstellung "An diesem westlichen Saum Pannoniens - György Sebestyén 1930 - 1990" des Österreichischen Literaturarchivs der Österreichischen Nationalbibliothek |