Rezensionen > Vargas, Fred: Die Nacht des Zorns |
"Leute, die sterben werden ..." Es ist die große Kunst der Fred Vargas, ihre Leser mit in die uns allen hinlänglich bekannte Gegenwart zu nehmen und sie - die für viele nur trist und grau und fürchterlich ist - für die Dauer eines Romans in märchenhaftes Licht zu tauchen. Da bekommt man dann genau so einen verhangenen Blick wie ihr Kommissar Adamsberg und schlägt die Seiten um in der Hoffnung, es möchten immer noch genug übrigbleiben, um nur ja nicht aus der Trance zu fallen, die Lesen ja auch bedeuten kann. Aber natürlich geht jedes Buch einmal zuende, und gerade jene, welche die heute 54-jährige gelernte Historikerin und Mittelalterarchäologin Frédérique Audoin-Rouzeau, die sich als Schriftstellerin Fred Vargas nennt, schreibt, tun das immer viel zu schnell. Diesmal ist es eine Legende aus dem elften Jahrhundert, die den "Wolkenschaufler" Adamsberg auf den Plan ruft. Eine junge Frau aus der Normandie hat in einem Wald nahe der Kleinstadt Ordebec das "Wütende Heer" des Seigneur Hellequin gesehen. Seit Jahrhunderten zieht diese Armee von Toten der Sage nach auf genau festgelegten Wegen durch das nördliche Europa. Sehen können die abgezehrten Recken aus vergangenen Tagen allerdings nur Auserwählte. Denen offenbart sich aber auch, dass mit den Toten immer ein paar noch Lebende unterwegs sind - Mörder, die unentdeckt blieben, Menschen, die ihresgleichen Schlimmes angetan haben, ohne bisher dafür sühnen zu müssen. Ihr Erscheinen in der Rotte von halb verwesten Pferden und Rittern ist ein Zeichen dafür, dass sie die nächsten drei Wochen nicht lebend überstehen werden. Damit sie die Chance erhalten, für ihre Verbrechen noch büßen zu können in Wort oder Tat, darf derjenige, welcher sie unter den unseligen Reitersleuten entdeckt, freilich ihre Namen nicht verschweigen. Mit dieser Verpflichtung lebt der Seher, oder, wie in dem Fall, der die Pariser Polizisten auf den Plan lockt, die Seherin nicht ganz ungefährlich. Denn die Geschichte jener, die praktisch an der Tür vom Reich der Lebenden zum Reich der Toten ihren Platz haben und in beide Richtungen zu blicken vermögen, erzählt auch Fälle, in denen ein aufgebrachter Mob den Überbringer der Botschaft lynchte in dem Glauben, dem Spuk damit ein Ende bereiten zu können. Die junge Lina Verdermot aus Ordebec jedenfalls hat vier Lebende gezählt, als ihr die "Mesnie Hellequin" begegnete. Drei davon konnte sie identifizieren und einer dieser Männer, die allesamt keinen guten Ruf in der Gemeinde genießen, ist bereits verschwunden, als sich ihre Mutter nach Paris aufmacht, um sich aus Angst um ihre Tochter der Hilfe des berühmten Kommissars Adamsberg zu versichern. Und natürlich packt der sofort seine Koffer, denn der Fall scheint wie für ihn erfunden zu sein. Es macht der französischen Bestsellerautorin niemand so schnell nach, wie sie nicht nur ihren Helden Adamsberg samt dessen spleenigen Mitarbeitern in eine Geschichte hineinzuziehen versteht, die bei rational Denkenden nichts als ungläubiges Kopfschütteln auslösen würde, sondern auch bei uns Lesern Besorgnis erweckt um Menschen, die diesmal durch nichts anderes bedroht zu sein scheinen als durch dunkle Kräfte aus dem Mittelalter, welche der Normalbürger nicht einmal wahrzunehmen vermag. Aber natürlich wird das Unheimliche am Ende geerdet wie in jedem ganz normalen Krimi. Und für die, denen die Strecke bis dahin zu lang ist, sorgen Parallelfälle, die mit der Geschichte in der Normandie auf wunderbar leichte Weise korrespondieren, dafür, dass sie sich nicht plötzlich von all den Wiedergängern und paranormal Begabten frustriert abwenden. Bei echten Vargas-Fans freilich besteht diese Gefahr sowieso nicht. Denn denen ist das Wiedersehen mit Figuren, die ihnen über die Jahre ans Herz gewachsen sind, fast wichtiger als die aktuelle Tätersuche. Und wirklich, da sind sie (fast) alle wieder: der sich in Racines Art jambisch äußernde Polizist Veyrenc, Adamsbergs rechte Hand, das wandelnde Lexikon Danglard, die prächtige Violette Retancourt, Letztere diesmal auf Undercover-Mission, und der erst kürzlich dazugekommene Zerk, Sohn des Kommissars, dem das Leben einer Taube genauso wichtig ist wie die Sorge um einen jungen Nordafrikaner aus den Banlieus, dem Bösartigkeit und Hinterlist, wie man sie nur bei den Vermögenden findet, ein heimtückisches Verbrechen anhängen wollen. Sogar einen durch den Pariser Kommissar enttarnten und im Gefängnis sitzenden Mörder bietet Vargas in heilender Mission noch einmal auf, um wieder Ruhe in die normannische Kleinstadt zu bekommen. Nur auf Adamsbergs große Liebe, Camille Forestier, muss der Leser immer noch warten. Doch wo so viele neue Figuren um unsere Sympathie kämpfen, sollte man das noch mindestens zwei weitere Bücher lang aushalten können. Dietmar Jacobsen © TourLiteratur
/ Autor Buchcover: © Aufbau Verlag, Berlin |
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