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Rezensionen > Genazino, Wilhelm: Mittelmäßiges Heimweh

"Es ist nicht einfach, ein einzelner zu sein ..."
Wilhelm Genazinos Roman "Mittelmäßiges Heimweh"

Wilhelm Genazino: Mittelmäßiges Heimweh. Roman.
München/Wien: Carl Hanser Verlag 2007.
ISBN 978-3-446-20818-6.
190 Seiten.
EURO 17,90


Er heißt Dieter Rotmund. Aber das erfährt man erst nach 95 (Rotmund) bzw. 124 Seiten (Dieter). Da sind gut zwei Drittel des Romans schon vorbei und der Leser ist Zeuge der Lebensbeichte eines Angestellten geworden, der seine Mitmenschen in Büro und Alltag fein säuberlich auf Distanz hält, indem er vor ihre Nachnamen stets die Anrede "Herr" oder "Frau" setzt. Selbst wenn er sich zu Büstenhaltersitz, -form und -farbe äußert, heißt die Trägerin des Kleidungsstücks "Frau Grünewald". Und nie käme es ihm in den Sinn, Herrn Dr. Blischke, Frau Bredemeyer, Herrn Zuckschwert oder Frau Kirchhoff zu Dutzen. Niemals! Ja, Dieter Rotmund ist ein schwieriger Fall. Und als solcher natürlich eine Genazino-Figur par excellence. Nicht ganz so witzig wie sein Vorgänger, der Katastrophenexperte und Ich-Erzähler aus der "Liebesblödigkeit" (2005), welchen die Qual der Wahl zwischen zwei Frauen gestellt hatte, ohne dass er sich für eine entscheiden konnte, aber in der melancholischen Grundhaltung auch dieser, wie allen anderen Gestalten aus dem langsam bemerkenswerten Umfang gewinnenden Kosmos des Frankfurter Autors verwandt.

Dabei steckt er richtig fest. Im Leben, in der Liebe wie auch sonst. Er ist "(noch) verheiratet", hat eine kleine Tochter, eine diebische Geliebte und jede Menge andere Probleme. Das eine ist der Aufstieg im Beruf, der wie aus heiterem Himmel kommt, ihn zwar keineswegs überfordert, aber weiter isoliert. Das andere hat mit abfallenden Körperteilen zu tun. Als es mal wieder ziemlich laut zugeht, verliert er ein Ohr. Später, im Bad, büßt er noch den kleinen Zeh ein. Zuerst versteckt er diese Malaisen. Doch als er beobachtet, dass es ihm nicht allein so geht - "Frau" Schweitzer", seine Vormieterin und Geliebte, präsentiert in intimen Stunden ein leeres BH-Körbchen, im Park fällt einem Kind plötzlich der Daumen ab, alles ohne viel Blut, fast beiläufig -, gerät das Ereignis schnell zur Nebensache. So ist es halt, die Dinge drängt es ganz natürlich auseinander, es fehlt der Zusammenhalt, das Verbindende, eine "Spur der Katastrophe" schwappt aus der Zeitung allgemach herüber ins wirkliche Leben.

Oder liegt es am Alter? Herr Rotmund ist, zugegeben, nicht mehr der Jüngste. Wie die Frauen, mit denen er umgeht und an denen es ihm nie wirklich mangelt, in der wenig erfreulichen "Phase des Körperteilvergleichs" angekommen sind, so er in jener des Verwunderns darüber, dass seine Libido immer noch intakt zu sein scheint - manchmal nur erwischt ihn eine "Errektion ohne Erregung". Dann bummelt er durchs Frankfurter Bahnhofsviertel, schaut mal in einem Bordell vorbei und wenn ihm danach ist, lässt er sich auf die Schnelle fellationieren, freilich ohne das innere Gleichgewicht gleich so weit zu verlieren, dass er nicht mehr Protokollant seines Daseins sein könnte.

Nein, Letzteres ist und bleibt er ganz gewiss, und nichts entgeht ihm an dem ärmlichen Leben, das er führt. Nicht die Tatsache, dass er zu seinem zweiten Zuhause in den Schwarzwald ohne Fahrkarte aufbricht, weil er sparen muss. Nicht die Ekelgefühle, die ihn hin und wieder aus heiterem Himmel - und fast ohne dass es für sie eines Anlasses bedürfte - erwischen. Nicht der Schmerz, die Trauer in den Gesichtern rundum. Nicht die Einsamkeit und nicht die Liebeswillfährigkeit wider besseres Wissen.

Manchmal ist es in diesem Buch wie damals, als Schirm und Nähmaschine sich zueinander gesellten, oder waren es Monokel und Botanisiertrommel? Dann komponiert Genazino Brotkrümel in eine Kinderaugenbraue oder bildet Neologismen wie "Bescheidenheitsangeber", "Tränensaugkraft" oder "Liebesruinen". Er liebt die Aufzählungen und auch in der Geschäftssprache kennt er sich aus: "Coaching", "Assessment", "up or out", "Kick-out-Kandidaten" und "unterkomplexes Denken" gehen ihm beinahe locker über die Lippen, aber diese Vokabeln sind natürlich hintersinnig aufgeladen. So reden keine wirklich glücklichen Menschen! Aber gibt es denn solche überhaupt noch?

Tiere jedenfalls gibt es genug. Möwen, die Bussen nachschauen, Tauben und Amseln, Fliegen und Spinnen, Hühner und Hasen, Bussarde und Stichlinge - und alle sind sie "empörungsfrei" im Unterschied zum Menschen. Der lehnt sich auf gegen sein Schicksal in der Welt, rebelliert auf der und gegen die "mittlere Schreckensebene" seiner Existenz und weiß zugleich: " Das Leben ist im Prinzip unannehmbar, wird aber dann doch angenommen."

Wilhelm Genazinos 43 Jahre alter Held hat am Ende eine Ehe und eine Beziehung hinter sich, in der keiner der beiden Partner den anderen wirklich kennen lernte. Aber noch erwartet er Sinn vom Dasein, weil er ohne den nicht leben zu können meint. Es muss etwas geben, das lohnt, und wenn es allein die Suche nach diesem Lohnenden wäre - daran hält er eisern fest. Die Mittelmäßigkeit seines und des Lebens vieler anderer ist ihm bewusst. Zu genau, zu detailliert beobachtet er die Welt, als dass ihm dies entgehen könnte. Und er sieht auch die Gefahr, dass ihm sein letztes Eigenes, seine Gefühle, zu Mittelmäßigkeit und Abklatsch medialen Empfindens verkommen könnten. Der Auflösung entgegenzutreten, die nahezu unmerklich ihr Werk tut, scheint menschliche Pflicht zu sein. Aber auch Tragik, denn was vermag ein Einzelner schon mehr, als zu sein und sich dem Nichts zu verweigern.

Dietmar Jacobsen

© TourLiteratur / Autor
Alle Rechte vorbehalten

Homepage des Autors Dietmar Jacobsen:
www.text-und-web.de

Buchcover: © Carl Hanser Verlag, München/Wien

Lesen Sie hier Dietmar Jacobsens Rezension zu Wilhelm Genazinos "Die Liebesblödigkeit"

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