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Rezensionen > Genazino, Wilhelm: Die Liebesblödigkeit

Unter Zivilisationsempörten
Wilhelm Genazinos "Die Liebesblödigkeit"

Wilhelm Genazino: Die Liebesblödigkeit. Roman.
München/Wien: Carl Hanser Verlag 2005.
ISBN 3-446-20595-0.
203 Seiten.
EURO 17,90


Mich hat zuerst der Titel angezogen: "Die Liebesblödigkeit". Ein schlichter Artikel, gefolgt von einem Hauptwort. Und was für einem! Im Duden müsste es zwischen Liebesbeziehung und Liebesbrief seinen Platz haben. Aber da steht es nicht. Von einer Liebesblödigkeit hat von den Wächtern über die deutsche Sprache offensichtlich keiner je gehört. Arme Wächter! Doch was soll man auch von Leuten erwarten, die so schreiben lassen möchten, wie in meiner Kindheit nur die Klassenletzten geschrieben haben - nach Gehör und gut Glück. Erklärt der Roman das Wort selbst, welches er im Titel trägt? Nicht explizit jedenfalls. Er macht uns statt dessen mit einem Privatgelehrten bekannt, einem Alleinreisenden in Sachen Chaos, welcher ziemlich erfolgreich Seminare zu "zivilisationsapokalyptischen" Themen durchführt. Wir lernen mit Genazinos Ich-Erzähler einen halbwegs zufriedenen Mann kennen, der eben unter jener "Liebesblödigkeit" leidet, weil er seit Jahren in einer menage à trois lebt, die er inzwischen - er hat die 50 überschritten - nicht mehr für angemessen hält. Also eine Krankheit? Etwas, das den Organismus angreift? Die Psyche verletzt? Dem entgegengetreten werden muss, solange es noch nicht zu spät ist? Tatsächlich, so versteht es der Romanheld zunächst und versucht sein Möglichstes, um sich für eine von den beiden Damen zu entscheiden. Wägt immerzu innerlich ab und verteilt Punkte an die Konkurrentinnen, die keine Ahnung von einander haben, ändert am Ende der kurzen Strecke Weges, die der Leser ihn begleitet, jedoch nichts an dem Zustand, in dem er sich alles in allem so unwohl nicht zu fühlen scheint.

Das ganze klingt nicht unbedingt nach Aktion pur und ist es letzten Endes auch nicht. Aber es wird von Wilhelm Genazino vom ersten Satz an wieder einmal hinreißend erzählt. Ganz aus der Figur heraus, in der sich einzunisten für die Stunden der Lektüre das reinste Vergnügen ist. Da schaut man diesem Burschen dann gebannt ins Hirn, verfolgt, wie aus Welt Denken und aus Denken Welt wird und welcher herrlich altmodischen Begrifflichkeit sich diese Vorgänge bedienen. Schlendert mit ihm durch die Straßen seiner Stadt und sieht, was man allein nie gesehen hätte, weil praktisch alles durch seine Augen zeichenhaft zu werden beginnt. Verabredet sich mal mit Sandra, der Chefsekretärin, mal mit Judith, der gescheiterten Konzertpianistin, die sich mit Klavier- und anderen Nachhilfestunden über Wasser hält. Beide sind dem Protagonisten lieb, jede auf ihre Weise. Mit Judith darf er der Intellektuelle sein, für Sandra von Zeit zu Zeit den Intellektuellen spielen. Wo die eine überfordert ist, springt die andere ein. Und was dieser nicht gefällt, entlockt jener Jubeltöne. Es könnte wirklich schön sein, wären da nicht sich mehrende Anzeichen langsamen körperlichen Verfalls und, damit einhergehend, eine Art schlechtes Gewissen, welches befiehlt, Ordnung zu schaffen, ehe es zu spät sein könnte.

"Die Liebesblödigkeit" ist ein Roman, der sich thematisch auf die Mitte des Lebens einlässt. Manchmal weise, manchmal komisch - nicht selten erinnernd an die Filme des großen Woody Allen -, werden die Abenteuer eines 52jährigen erzählt, der mehr oder minder in den Tag hinein lebt. Eigentlich stellt die Liebe kein Problem für ihn dar. Im Gegenteil: er hat und genießt sie gleich im doppelten Maße. Aber das hereinbrechende Alter beginnt ihn zu piesacken. Hier wackelt ein Zahn, da flattert ein nervöses Augenlid, und wenn es ganz schlimm kommt, sucht eine plötzliche Druckwelle seinen Brustkorb heim, von der er ahnt, dass er sie niemandem wird beichten können. Eine ausgeprägte Hypochondrie - auch da lässt Allen grüßen - tut ihr Übriges. Und sexuell sollte er endlich kürzer treten: "Ich stehe, liebestechnisch gesehen, mit dem Gesicht, das heißt mit dem Geschlecht, zur Wand." (S.143) In dieser Situation sich von einem Teil seiner irdischen Last - die bei näherer Betrachtung oft eher einer Lust ähnelt - zu befreien, mag verlockend erscheinen. Tragen die Menschen, die ihm über den Weg laufen, doch auch höchstens die Hälfte dessen, was er sich seit Jahren aufgeladen hat. Doch er muss schnell erkennen, dass es nichts wird mit der rationalen Bewältigung eines Zustands, in den er offensichtlich ohne großes eigenes Zutun hineingeraten ist, den die Natur einfach für ihn bereit hielt. Am Ende bleibt ihm nur das Akzeptieren des status quo, denn würde er tatsächlich für Ordnung sorgen und sich von einer der beiden Frauen trennen, wöge das "Liebesunrecht", welches er damit beginge, genauso schwer wie seine beständigen "Verstöße gegen die Ethik".

Von wunderbarer Verschrobenheit ist übrigens auch das Umfeld von Genazinos Protagonisten. Da gibt es Panik-Berater und Ekel-Referenten, Empörten-Beauftragte und Staubforscherinnen, und immer einmal wieder begegnet man dem "Postfeind", der sein Lebensmisstrauen verschwörungstheoretisch auf die Deutsche Post projiziert hat. Sie alle sind "Zivilisationsempörte" (S. 168) im sachten Widerstand. Keine Helden, keine Sieger. Doch sie lassen sich auch nicht unterkriegen und setzen der Hektik, mit der die Welt sie umbrandet, eine Langsamkeit entgegen, die in ihrer Konsequenz bewundernswert ist und sich dem Erinnern als Kraft, die aus der Vergangenheit heraus wirkt, nicht verschließt.

"Die Liebesblödigkeit" ist Genazinos erster nach dem Büchnerpreis 2004 erschienener Roman. Damals begründete die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung ihre Entscheidung für den Frankfurter Autor damit, dass sie ihn deshalb zu ehren beabsichtige, weil er Komödiantentum mit Barmherzigkeit verbinde, seine Gegenwart belausche und ausspähe, "um sie im Alltag unscheinbarer Einzelner zu spiegeln, detailversessen, eigensinnig und in wunderbar musikalischer Prosa". All das trifft auch auf den vorliegenden Text zu. Vielleicht sogar noch etwas mehr. Denn Wilhelm Genazino - will mir scheinen - wird von Buch zu Buch besser. Hier hat ein Autor über die Jahre wirklich zu sich selbst gefunden. Souverän fügt er - ganz Melancholiker des Blicks - aus kleinen und kleinsten Beobachtungen das poetische Bild einer Welt zusammen, in der wir unschwer unsere eigene erkennen.

Dietmar Jacobsen

© TourLiteratur / Autor
Alle Rechte vorbehalten

Homepage des Autors Dietmar Jacobsen:
www.text-und-web.de

Buchcover: © Carl Hanser Verlag, München/Wien

Lesen Sie hier Dietmar Jacobsens Rezension zu Wilhelm Genazinos "Mittelmäßiges Heimweh"

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