Victor
Hugo - 200-Jahrfeier eines europ�ischen Superstars
Geboren am
26. Februar 1802 in Besan�on (Frankreich), gestorben am 22. Mai 1885 in
Paris.
"Ein komisches Volk, diese Franzosen", notierte Edmond de Goncourt
am 22. Mai 1885 in ungewohnt salopper Art in sein Tagebuch. "Sie
wollen keinen Gott mehr, sie wollen keine Religion mehr, und da sie nun
gerade Christus entg�ttert haben, verg�ttern sie im selben Moment Hugo
und proklamieren die Hugolatie." Victor Hugo war gerade verstorben und
Frankreich erstarrte wie in Trauer um ein geliebtes Staatsoberhaupt. Die
Beisetzung des Schriftstellers geriet zu einem nationalen Gro�ereignis,
das in einem symbolischen Akt schlie�lich und endg�ltig das Hin und Her
um Soufflots Kirchenbau auf dem H�gel Sainte-Genevi�ve beendete: Die Kirche,
die mit der Beisetzung Voltaires 1791 durch die Revolution zum nationalen
Mausoleum bestimmt worden war, im Laufe der wechselnden Regimes des 19.
Jahrhunderts dann teils religi�sem, teils patriotischem Kult gedient hatte,
wurde nun, mit dem Einzug von Victor Hugos Leichnam, unwiderruflich zur
Nekropole der Gro�en Frankreichs: Aux Grands Hommes la Patrie reconnaissante.
Woher kam
sie, diese Reconnaissance, Dankbarkeit und Anerkennung, die bis
heute Hugos Ruhm ausmachen? Wie kam es, dass Hugo im Gegensatz zu den
Boh�miens des 19. Jahrhunderts bereits zu seinen Lebzeiten Prominenz,
Respekt und Reichtum erlangte? Warum wurde bereits Hugos 80. Geburtstag,
drei Jahre vor seinem Tod, zu einem nationalen Feiertag, an dem franz�sischen
Sch�lern alle Strafen erlassen wurden und die Stra�e, in der Hugo wohnte,
zur Avenue Victor Hugo umbenannt wurde, so dass man "An Monsieur
Victor Hugo, in seiner Avenue" schreiben konnte? Dazu brauchte es Genie,
Ehrgeiz, vielseitiges Engagement und eine schillernde Pers�nlichkeit.
Der Franzose
Die Geschichte dieses Mannes, der am 26. Februar 1802 in Besan�on das
Licht der Welt erblickte, ist eng mit der Frankreichs verstrickt. Der
junge Hugo unterlag zun�chst den gegens�tzlichen Einfl�ssen seiner Eltern:
Sein Vater war Anh�nger der Revolution und stieg im Empire bis zum Rang
eines Generals auf. Seine Mutter hingegen war Royalistin, und da Napoleon
durch die Versetzungen des Vaters das Familienleben nachhaltig beeintr�chtigte,
die Eltern ohnedies bald getrennt lebten, galt auch Victor Hugos Loyalit�t
w�hrend der Restauration uneingeschr�nkt den Bourbonen. Dies war entscheidend
f�r die Laufbahn Hugos, denn die gegenseitige Sympathie zwischen dem jungen
Dichter und dem Regime erm�glichte es ersterem, sein ehrgeiziges Ziel
"Chateaubriand ou rien!" mit Nachdruck zu verfolgen: Hugo bekam
eine staatliche Rente, mit deren Hilfe er sich trotz fr�her Familiengr�ndung
uneingeschr�nkt seiner schriftstellerischen T�tigkeit widmen konnte. Dank
des gro�en Arbeitseifers lie�en Erfolge nicht lange auf sich warten und
die Einstellungen ver�nderten sich. Sowohl in politischer als auch in
literarischer Hinsicht wurde Hugo zum Liberalen und die skandalumwitterte
Urauff�hrung des Dramas "Hernani" im Revolutionsjahr 1830 machte
ihn zum Kopf der franz�sischen romantischen Schule, deren Mittelalterbegeisterung
in "Notre Dame de Paris" 1831 zur vollen Entfaltung kam.
Es
ist dieses innovative, wenn nicht revolution�re Flair, das Hugo seit 1830
bereits umgab, durch das Exil unter Napoleon III. best�tigt wurde und
sich durch das Engagement 1870/71 unausl�schlich in das kollektive Ged�chtnis
einpr�gte, das Hugo zur Ikone zun�chst der Dritten Republik und heute
offenbar auch der F�nften Republik werden l�sst: Reconnaissance
- republikanischer Stolz also auf Leben und Werk einer Legende. Auf der
anderen Seite spielt aber auch die Bewunderung f�r die Menschlichkeit
dieses Mannes eine Rolle, der auf typisch franz�sische Weise Konkflikten
kompromissbereit und pers�nlichen Widerspr�chen gelassen begegnete. Schlie�lich
war doch der gro�e Liberale zu Hause ein zutiefst b�rgerlicher Patriarch,
der im Interesse des Familienlebens von seiner Frau und seinen Geliebten
Treue und Ergebenheit erwartete. Dass die diesbez�gliche Autorit�t Hugos
seiner Frau zur Last - Ad�le fl�chtete sich in eine Romanze mit Hugos
Kritiker und Konkurrent Sainte-Beuve - und seiner Tochter zum Verh�ngnis
- die junge Ad�le H., wie Fran�ois Truffaut sie in seiner Verfilmung diskret
bezeichnete, konnte sich nie aus dem Schatten des Vaters in ein eigenes
Leben befreien und erlitt ein tragisches Schicksal, das der Vater nicht
besser h�tte erfinden k�nnen - wurde, verzieh man dem Familienvater, der
mit dem Verlust seiner �brigen Kinder schon schwer gestraft schien.
Der Europ�er
Neben dem republikanischen Patriotismus sind es die europ�ischen Visionen,
die die Pers�nlichkeit von Victor Hugo heute attraktiv machen. W�hrend
des Exils entwickelte er bereits die Idee einer gemeinsamen europ�ischen
W�hrung. Am 14. Juli 1870, Jahrestag des Sturmes auf die Bastille und
Vorabend des deutsch-franz�sischen Krieges, pflanzte er in seinem Garten
auf Guernesey die Eiche der Vereinigten Staaten von Europa und prophezeite,
dass es in hundert Jahren keine Kriege und keinen Papst mehr geben, die
Eiche aber gro� sein w�rde. ( Der Schriftsteller und Hugo-Biograph Andr�
Maurois stellte 1954 lakonisch fest, dass sich bis dahin nur die letzte
der Prophezeiungen bewahrheitet habe.) Kurz darauf kehrte er pflichtbewusst
nach Paris zur�ck, um seinen Landsleuten in den bevorstehenden schwierigen
Zeiten zur Seite zu stehen und die am 4. September proklamierte Dritte
Republik aktiv zu unterst�tzen, die gro�e Hoffnungen in die R�ckkehr des
gro�en Schriftstellers legte.
Deutschland,
dessen Landschaft und Kultur Hugo nicht zuletzt w�hrend seiner Rheinreisen
(1838-40) sch�tzen gelernt hatte, bedachte er zun�chst mit einem wohlwollenden
Appell voller Unverst�ndnis �ber die Entwicklung zwischen den beiden Nationen,
die seines Erachtens Europa bildeten. Die anhaltende Belagerung der Stadt
Paris, die an den unfriedlichen Zielen der Preu�en bald keinen Zweifel
mehr lie�en, zwang Hugo dann jedoch zu patriotischen und unverhohlen martialischen
T�nen.
Der Dichter
und Volksschriftsteller
Faszinierend,
aber auch suspekt, war seit jeher das Multitalent Victor Hugos, dessen
Werk alle Gattungen umfasst: B�ndef�llende lyrische Dichtungen, die alle
Facetten des politischen und pers�nlichen Lebens mit kraftvollen Worten
beschworen und dem Schriftsteller mit unbeirrbarer rhythmischer Sicherheit
in einem Ma�e aus der Feder flossen, das sogar Vorratshaltung und somit
auch bei reduzierter Schaffenskraft stetige Ver�ffentlichungen erlaubte.
Dramen solcher Superlative, dass sie, wie "Cromwell", dessen
programmatisches Vorwort ber�hmt wurde, nie zur Auff�hrung gelangen konnten.
Romane, die ebenfalls die bildungstheoretischen und gesellschaftskritischen
Ambitionen des Autors illustrieren und noch dazu der zeitgen�ssischen
Lust am Phantastischen und Grauenhaften Rechnung tragen. Die Geschichten
von Quasimodo und Esmeralda aus "Notre Dame de Paris" oder Jean
Valjean und Cosette aus "Les Mis�rables" kennt jeder und haben,
will man einer Definition von Michel Tournier folgen, das Zeug zum Mythos.
Dies verdanken wir Menschen wie Walt Disney und Andrew Lloyd Webber, weniger
der Tatsache, dass Hugo heute tats�chlich gelesen wird.
"Ob
das Trommeln f�r Hugo bewirkt, dass der Staub von manchen seiner B�cher
fliegt?" fragte daher auch Gregor Dotzauer am 24. Februar 2002 im "Tagesspiegel".
Das darf man bezweifeln, denn Hugos B�cher sind selten zeitlos, so dass
ihr Verst�ndnis ohne (literatur-)historisches Hintergrundwissen bereits
f�r Hugos Landsleute schwierig ist. In Frankreich geh�rt die Kenntnis
ausgew�hlter Hugoscher Gedichte freilich noch zur besseren Schulbildung,
in Deutschland hingegen geht Hugo-Lekt�re l�ngst weit �ber die Allgemeinbildung
hinaus und wird auch in den frankophilsten Schulen von Franz�sischlernern
nicht mehr verlangt. Diesbez�glich bezeichnend ist die Editionslage von
Hugos Werk diesseits des Rheines, die sich auch zum 200. Geburtstag offenbar
nicht wesentlich gebessert hat.
Friderike
Beyer
© TourLiteratur
/ Autorin
Alle Rechte vorbehalten
Foto Victor
Hugo: © Archiv Diogenes Verlag, Zürich
Benutzung mit freundlicher Genehmigung des Diogenes
Verlags, Zürich
Buchcover:
1) Victor Hugo: Der Glöckner von Notre Dame. Taschenbuch. Diogenes
Verlag Zürich
2) Victor Hugo: Die Elenden - Les Misérables. Artemis & Winkler
Verlag, München 1998
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