Das
Kind in mir selbst ...
Zum Tod von Astrid Lindgren
Geboren am
14. November 1907 auf dem Hof Näs bei Vimmerby (SmÃ¥land/Schweden),
gestorben am 28. Januar 2002 in Stockholm.
Kalt und sonnig war es, als vor zwei Wochen ein schlichter weißer
Sarg in einer schwarzen Kutsche durch die Straßen der schwedischen
Hauptstadt gefahren wurde, begleitet von königlichen Garden. Dahinter
trabte ein weißer Hengst, langsam, bedächtig, oft mit geneigtem
Kopf, so als wolle er auf seine Weise der Toten seine Ehrerbietung bezeugen.
Sechs Wochen zuvor war sie gestorben, in ihrer Wohnung im Stockholmer
Stadtteil Vasastan, in der sie sechzig Jahre gelebt hatte. Tausende Schweden
nahmen am Straßenrand Abschied, viele Stunden hatten sie ausgeharrt,
um einen letzten Blick auf den Sarg zu werfen. Im Dom warteten König
Carl Gustav, Königin Silvia, Ministerpräsident Göran Persson
und viele andere, die der Schriftstellerin die letzte Ehre geben wollten.
"Wenn ich auch nur eine einzige düstere Kindheit erhellen konnte,
bin ich zufrieden", hat Astrid Lindgren einmal gesagt. Sie konnte
mehr als zufrieden sein. Sie hat das Kinderbuch-Genre revolutioniert,
hat Figuren geschaffen, die sich in ihrer unverwechselbaren Originalität
auf Dauer in die Weltliteratur eingeschrieben haben. Wer an Kinder und
Literatur denkt, denkt an sie, wer gelernt hat, dass kindliche Phantasie
nicht nur etwas mit Unschuld, sondern auch und gerade mit schöpferisch-subversiver
Kraft zu tun hat, nennt ihren Namen: Astrid Lindgren.
Als
Astrid Anna Emilia Ericsson wurde sie 1907 auf einem kleinen Hof bei Vimmerby
als Tochter eines Bauern und Pfarrhofpächters geboren. Mit ihren
drei Geschwistern verlebte sie eine glückliche Kindheit, wie sie
selbst oft und gern bekundete, ein richtiges "Bullerbü-Leben".
1926 trat sie in die Welt der Erwachsenen ein, absolvierte eine Ausbildung
als Sekretärin in Stockholm. Ihre zweite Stelle führte sie 1928
mit Sture Lindgren zusammen, dem Direktor des Schwedischen Königlichen
Automobilclubs. Drei Jahre später heiraten die beiden, ihren 1926
unehelich geborenen Sohn Lars, bis dahin von einer Pflegefamilie versorgt,
bringt Astrid Lindgren mit in die Ehe. 1934 kommt die Tochter Karin zur
Welt, die "Erfinderin" von Pippi Langstrumpf, wie die Mutter
offen einräumte. Karin war es, die während einer Krankheit plötzlich
den Namen erfand und Geschichten üer sie von ihrer Mutter hören
wollte. Und Astrid Lindgren erzählte. Das Manuskript schickte sie
1944 an den bekannten Kinderbuchverlag Rabén & Sjögren
- der es ablehnte. Aufgeben wollte Astrid Lindgren deshalb nicht. Mit
ihrem zweiten Buch - das offiziell ihr erstes wurde - gewann sie im gleichen
Jahr den zweiten Preis bei einem Mädchenbuch-Wettbewerb: "Mai-Britt
erleichtert ihr Herz", so der Titel des Erstlingswerks. Jetzt erinnerte
man sich auch der verworfenen Geschichte um die starke Pippi: Schon ein
Jahr später gewann Lindgren mit ihr den ersten Preis in der Kategorie
"Kinderbücher" beim Verlag Rabén & Sjögren.
Und man wollte mehr von der Autorin. Fast vierzig weitere Bücher
folgten in den nächsten Jahrzehnten, dazu Theaterstücke und
Drehbücher. Bis 1970 leitete sie das Kinder- und Jugendbuch-Lektorat
des Verlages. Im März 1992 erklärte sie, nicht mehr schreiben
zu wollen - ihre Augen machten ihr Probleme, Ruhe wollte sie haben, dem
Aufsehen entfliehen, das ihre Person - ohne ihr Zutun - immer verursacht
hat. Erwachsen sei sie deshalb noch lange nicht geworden, erklärte
die Autorin in einem ZEIT-Interview aus dem Jahr 1992 (ZEIT Nr. 47 /13.
11. 1992): So kindlich wie früher werde sie bleiben. Und: Sich stets
ihrer Kindheit zu erinnern, bedürfe es nicht des permanenten Schreibens
darüer.
Politische
Kleinarbeit war ihre Sache nicht. Aber wenn es um offensichtliche Ungerechtigkeiten
ging, konnte Astrid Lindgren deutlich werden. Und ihre Stimme wurde gehört.
So prangerte sie - gemeinsam mit der Tierrechtlerin Kristina Forslund
- in Büchern und in Artikeln in der viel gelesenen Tageszeitung "Expressen"
die schlimmen Folgen der Massentierhaltung an. 1988 wurde vom schwedischen
Parlament ein deutlich verbessertes Tierschutzgesetz etabliert. Bei den
großen Fragen der Menschheit war sie pessimistischer. "Über
den Frieden sprechen, heißt üer etwas sprechen, was es nicht
gibt", bekannte sie einmal. Trotzdem hat sie genau darüer im
Jahr 1987 in einem ausgedehnten Briefwechsel mit Michail Gorbatschow debattiert.
Astrid Lindgren
wurde mit nationalen und internationalen Preisen üerhäuft:
1950 die Nils-Holgersson-Plakette, 1956 den Sonderpreis zum Deutschen
Jugendbuchpreis für "Mio, mein Mio", die Große Goldmedaille
der Schwedischen Akademie im Jahr 1971, drei Jahre später die sowjetische
Auszeichnung "Medaille für Lächeln", der Friedenspreis
des Deutschen Buchhandels folgte 1978. Den Selma-Lagerlöf-Literaturpreis
nahm sie 1986 entgegen - im Todesjahr ihres Sohnes. Es folgten zahlreiche
Ehrendoktorwürden, der UNESCO Book Award 1993 und die Medaille des
Slowenischen Staates im Jahr 1996. 1997 wurde sie zur "Schwedin des
Jahres in der Welt" gekürt, 1999 erklärten sie die Leser
des "Expressen" zur "beliebtesten Schwedin des Jahrhunderts".
Der Nobelpreis für Literatur war nicht dabei - erfolgreich hat sie
sich gegen eine Nominierung gewehrt. Über den Alternativen Nobelpreis,
der ihr 1994 zuerkannt wurde, hat sie sich freilich gefreut. Tiefes "Enagement
für Gerechtigkeit, Gewaltlosigkeit und Verständnis gegenüer
Minderheiten" wurden ihr darin bezeugt. Und auch jetzt wollen die
Ehrungen kein Ende nehmen: Das Deutsche Kinderhilfswerk hat unlängst
Astrid Lindgren, die "starke Stimme für die Rechte der Kinder",
offiziell für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen, der ihr posthum
zuerkannt werden solle.
Von
Lindgrens Büchern wurden üer 120 Millionen Exemplare weltweit
verkauft, allein "Pippi Langstrumpf" ist in üer 85 Sprachen
üersetzt worden, selbst Ausgaben in Moldawisch, Usbekisch, Tatarisch,
Zulu und Suaheli sind erhältlich. So unterschiedlich der Themenkreis
auch ist - eines haben ihre Bücher gemeinsam: das Beharren auf die
Eigenständigkeit des kindlichen Daseins, auf ein Leben in Frieden
und Geborgenheit, auf ein selbstbewusstes "Ich"-Sagen-Können.
Ein solches Mikrokosmos der Geborgenheit ist Bullerbü, eine utopisch-bodenständige
Spielwiese, ausgestattet mit jenem Idyllenarsenal,
das mit der Wendung "glückliche Kindheit" unwillkürlich
assoziiert wird: eine intakte, nahezu unberührte Natur, zufrieden
weidende Kühe und blökende Schäfchen, liebevoll umsorgende
Eltern und verschmitz-weise, grundgütige Großväter. Eine
Welt "da draußen" scheint es nicht zu geben, jedenfalls
ist von ihr kaum die Rede. Und doch wird nie verschwiegen, dass es sie
gibt, geben muss. Nicht als Bedrohung, nicht als Feindesland, sondern
als Welt, in die es einzutreten gilt, ohne die vorige zu vergessen. Und
von der man wissen muss, dass sie auch Schmerzen, Enttäuschung, Trauer
und - Tod bereithält.
Kein Kinderbuchautor
zuvor hat es gewagt, den Tod zum Thema seiner Geschichte zu machen. In
den "Brüdern Löwenherz", dreißig Jahre nach
den "Bullerbü"-Geschichten erschienen, zeigt Astrid Lindgren
das Absolute des Daseinsabschieds ebenso wie das Tröstliche, das
Unvermeidliche wie das Hoffnungsvolle. Heftig ist sie dafür kritisiert
worden, ein Tabubruch, mit Kopfschütteln quittiert. Aber immer wieder
hat die Autorin Briefe von Eltern sterbender Kinder erhalten, voll des
Dankes für die Einfühlsamkeit, mit der Lindgren das Thema behandelt
hat und - für den Trost, den sie den Kindern spendete, für die
Einblicke ins Land Nangijala, die sie ihnen noch gewährte.
Lindgrens
größter Erfolg wurde "Pippi Langstrumpf", 1949 erstmals
auf Deutsch erschienen. Pippi lebt in dieser und in ihrer Welt.
Sie kann es sich leisten. Sie ist stark, so gewaltig stark, dass sich
selbst notorische Verbrecher nicht mehr in ihre Nähe trauen. Und
auch die ansonsten resolute Jugendamtsvertreterin muss sich geschlagen
zurückziehen, da sich das "arme Kind" erfolgreich gegen
die bigott-besorgten Vereinnahmungsversuche der bürgerlichen Welt
zur Wehr setzen kann. Nein, Pippi ist kein Kind, das sich brav in die
Unvermeidlichkeit eines Kaffekränzchen-Nachmittags fügt, bei
dem es artig und bescheiden zwischen hutbestückten und Torte schaufelnden
Tanten sein demütig-stummes und bewegungsloses Dasein fristet. Da
muss permanent erkundet, erforscht, hinterfragt werden. Pippis sympathische
Unverschämtheit ebnet ihrer unstillbaren Neugier den Weg, einer Neugier,
die die Welt erkennen, aber noch lange nicht anerkennen will. Pippis Konterkarieren
von Autorität fand im ürigen dort zunächst wenig Anklang,
wo man sich von Autoritäten - gleich welcher Art - noch lange nicht
verabschiedet hatte. Im Frankreich de Gaulles oder im Deutschland Adenauers
beispielsweise hatte man anfangs so gar keinen Sinn für die skurrilen
Eskapaden und den bisweilen absurden Wortwitz der selbstbewussten Göre.
Der Nierentisch-Mentalität entsprach dies nicht.
Und
dann gar Karlsson vom Dach, der fliegende Flegel, der sich ungeniert ins
Leben eines braven Schuljungen mischt und dessen anerzogene Erwachsenengläubigkeit
gehörig ins Wanken bringt. Karlsson ergeht sich in schier unerträglicher
Rechthaberei. Ohne mit der Wimper zu zucken berauscht er sich an der eigenen
Unfähigkeit, verkauft seine Tolpatschigkeit als Genialität,
vollzieht mit fassungslos machender Selbstverständlichkeit einen
Affentanz der Eitelkeiten - ein personifiziertes Stakkato unbedingter
und scheinbar unhinterfragter Selbstgerechtigkeit, ein "anarchistisches
Monster der Unabhängigkeit" (Jens Jessen in der ZEIT). Und doch:
Die Rigorosität dieses Lebensentwurfes macht ebenso sprachlos wie
sie in ihrer naiv-trotzigen Art bezaubert. Hier pocht einer auf Beachtung,
der eigentlich genau weiß, dass er sie unter "normalen"
Umständen nicht einfordern könnte. Die demonstrative Hybris
wird zur Überlebensstrategie in einer Welt, in der das "Andere"
in die Randbezirke tolerierten Daseins gedrängt wird.
Astrid Lindgren
hat die Kinder- und Jugendliteratur um Dimensionen bereichert, die man
dem Genre nicht zugetraut - und auch nicht zugewiesen hätte. Das
ist ihr großer Verdienst, das macht sie und ihre Bücher unvergessen.
Ob die üermütigen Streiche eines Michel aus Lönneberga,
die Detektivabenteuer des Kalle Blomkvist oder die unbeschwert verlebten
"Ferien auf Saltkrokan": Noch vielen Generationen werden sie
hoffentlich zeigen, was und wie Kindheit sein kann. "Ich
hoffe, dass ich mit meinen Büchern ein ganz klein wenig zu einer
menschenfreundlichen, lebensbejahenden und demokratischen Grundeinstellung
der Kinder beitragen kann." Ein bescheiden formulierter Wunsch am
Ende ihres Lebens und doch der unbescheidenste, der denkbar und - unabdingbar
ist. Der oft zitierte Satz von Büchern, die weiterleben - man hat
das Gefühl, dass er zum ersten Mal wirklichen Trost spendet.
Holger
Dauer
© TourLiteratur
/ Autor
Alle Rechte vorbehalten
Lindgren-Zitate
z.T. entnommen aus dem Text "Astrid Lindgren üer sich selbst"
(© Verlag Rabén & Sjögren, Stockholm) auf www.astridlindgrensworld.com
und aus der Lindgren-Seite von "Onlinekunst.de"
Foto und
Buchcover: © Friedrich Oetinger Verlag, Hamburg
Benutzung mit freundlicher Genehmigung des Friedrich
Oetinger Verlags
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