Aufsätze > August von Kotzebue, "Die deutschen Kleinstädter" |
Titel,
Thesen und (bürgerliche) Temperamente - Kotzebues Lustspiel "Die deutschen Kleinstädter" aus dem Jahr 1803 zählt zu den erfolgreichsten und langlebigsten Stücke des 19. Jahrhunderts. Direktes Vorbild war die ein Jahr zuvor in Paris zur Uraufführung gelangte, von Kotzebue übersetzte ("Die französischen Kleinstädter") Komödie "La petite ville" des französischen Theaterdichters Louis Benoît Picard (1769 - 1828), eines Autors, den auch Schiller sehr schätzte. [1] Der europaweit bekannte Dramenautor löste heftigste Reaktionen aus. Während Karl August Böttiger, Direktor des Weimarer Gymnasiums und persönlicher Freund Kotzebues, das "mit der reichsten Ader des Witzes und mit ächt Molierischen Zügen und Situazionen ausgestattete Stück" [2] lobte, wertete August Wilhelm Schlegel die "Deutschen Kleinstädter" als "Posse, wo mit vieler Plattheit einige lustige Situazionen erkauft werden" [3]; ironisch dankt er dem Autor "für den guten Willen [,] Holbergisch seyn zu wollen", um ihm zugleich dessen "Gründlichkeit der Komposizion" eindeutig abzusprechen. [4] Handlung und Anlage des Stückes weisen all jene Merkmale auf, die den Publikumserfolg so vieler Popularstücke nicht nur von Kotzebue sicherten: eine geschickte, wenn auch zu offensichtlich konstruierte Handlungsführung, ein durch vielerlei Turbulenzen in Gang gesetzter Verwicklungs- und Verwechslungsmechanismus, der zu einer zeitweiligen Störung einer festgefügten Ordnung, schließlich jedoch zu deren Rekonstituierung führt, geschickt gestaltete Parallel- und Nebenhandlungen, zwar "krude Inkohärenzen in der Motivierung der Handlungsteile" [5], die den Eindruck nahezu perfekter Beherrschung aller bühnenwirksamen Mittel jedoch keineswegs verwischen können. Inhalt Olmers begegnet der übertrieben-gekünstelten Aufmerksamkeit, die ihm zuteil wird, mit geradliniger Offenheit und ironischer Distanz. Ohne Umschweife klärt er das Missverständnis auf und gibt zu erkennen, dass er ein einfacher Mensch ohne Titel sei, der gedenke, Sabine zu heiraten. Die kleinstädtische Gesellschaft reagiert mit harscher Ablehnung. Doch ein Zufall kommt den Liebenden zu Hilfe: Eine Kuhdiebin, die seit mehreren Jahren im Krähwinkler Gefängnis sitzt, ohne dass man ihr bisher den Prozeß machen konnte, da man sich mit der Nachbarstadt über die gerichtliche Zuständigkeit nicht einigen konnte, entflieht ausgerechnet am Vorabend der endgültigen Klärung des Vorfalls. Staar, um seines Triumphes beraubt, muss überdies befürchten, dass die Affäre, so sie bekannt werden sollte, in der Residenz Aufsehen erregen wird. In dieser Situation gibt sich Olmers als "Geheimder Kommissionsrat" zu erkennen und verspricht, ein gutes Wort beim Minister einzulegen. Staar, dem seine Reputation über alles geht, willigt schließlich in die Hochzeit ein, und auch die übrige Gesellschaft, nunmehr durch den doch vorhandenen Titel des Werbers beruhigt, verweigert der Verbindung von Sabine und Olmers nicht mehr länger ihre Zustimmung. Lüge,
Titelsucht und Klatsch-Kultur
Galanterie, Lüge und Intrige als Wesensmerkmale der Residenz, Natürlichkeit als Nobilitierungssignum der Kleinstadt - so wäre der Erwartungshorizont des zeitgenössischen Rezipienten formelhaft zu umschreiben. Die im Stück zum Gegenstand spöttischer Kritik gemachte sklavische Beachtung standesgemäßer Verhaltensweisen, die die Krähwinkler Gesellschaft ostentativ einfordert, die unhinterfragte Unterwerfung unter eine nahezu als heilig geltende Obrigkeit, die lächerliche Kultivierung der Titelsucht, das ausschließliche Sprechen in Floskeln - all dies lässt den Eindruck einer völligen Erstarrung des individuellen Lebens entstehen, eines normierten Öffentlichkeitslebens und uniformierten kollektiven Daseins. Zu Beginn des IV. Aktes reflektiert Olmers über diese "herdenhafte Entindividualisierung" [8]:
Die kleinstädtische Klatsch-'Kultur' [10] wird mit der informellen Ausrichtung des alltäglichen Lebens in der Residenzstadt konfrontiert: In III,5 entwirft Sabine ein Bild residenzstädtischen Lebens, das Frau Staar in Angst und Schrecken versetzt:
Bezeichnenderweise antwortet Frau Staar, die sich der mentalen Umklammerung ihres Kollektivs nicht entziehen kann: "Hör auf! ich bekomme meinen Schwindel." (S. 47) Die Residenz, im Kotzebueschen Kontext der "Hort des offenen, repressionsfreien Diskurses" [11], wird im Reflex der Provinzler in der Tat zum Kulminationspunkt rigoroser Ablehnung, diesmal aber nicht, weil sie als Brutstätte der Uneigentlichkeit stigmatisiert würde, sondern weil sie in ihrer lebenspraktischen Orientierung zu einer Erschütterung tief eingewurzelter Dispositionen zu führen droht, die von einem hohen Formalisierungsgrad gekennzeichnet sind und die zugleich als Selbstversicherungsgarant erlebt wird. Das geradezu Farcenhafte der Krähwinkler Titelsucht zeigt sich beispielsweise im I. Akt; Frau Staar, die von der Ankunft des vermeintlichen Königs erfährt, beauftragt die Magd, die wichtigsten Damen des Orts zum Empfang zu bitten:
Und auch Sabine weiß ihrem Geliebten zu versichern:
Die interpersonale Kommunikation innerhalb der Provinzstadt Krähwinkel lehnt sich eng an die höfische Komplimentierkunst an, die die Lebenswelt, den zwischenmenschlichen Umgang fast völlig überlagert und an Ausschließlichkeit und Konsequenz nicht zu überbieten ist. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts entwickelte sich, ganz im Sinne der Aufklärung, ein sich immer deutlicher vom Adel differierendes Kommunikations-Verhalten, das sich im Bürgertum allmählich durchsetzte. Dabei markierte Knigges 1788 erstmals veröffentlichtes Buch "Über den Umgang mit Menschen" eine "Art Epochenschwelle hin zu 'bürgerlichen' Umgangs- und Kommunikationsformen" [12]. Knigges eindringlicher Appell an individuelle Selbstverantwortlichkeit, sein Plädoyer für natürliche und redliche Umgangsformen bewirkte in der Folge eine nicht mehr zu übersehende und in fast alle lebensweltlichen Bereiche eindringende Informalisierung. "Keine Regel ist so allgemein", schreibt Knigge im ersten Kapitel, "keine so heilig zu halten [...] als die: [...] stets wahrhaftig zu sein in seinen Reden." [13] In seiner Lebensausrichtung hat der mündige Mensch darauf zu achten, "mäßig zu sein und bescheidene Wünsche zu nähren" [14]. Vornehmliches Leitprinzip soll sein: "Sei selbständig. Was kümmert dich am Ende das Urteil der ganzen Welt, wenn du tust, was du sollst [...]." [15] Krähwinkel zeigt sich von diesen aufklärerischen Implikationen unberührt. Der eitel-selbstgefällige Provinzialismus, der sich unverfroren vermeintlich weltgewandter Gesten bedient, offenbart sich als ein auf zwanghaftes Zeremoniell reduziertes Dasein. Diese extreme Konventionalisierung des Umgangs ist etwa in mentalitätshistorischer Hinsicht gleichsam als Abwehrreaktion zu interpretieren, die sich gegen all jene richtet, die die als unverrückbar empfundene Ordnung mit ihrer unverblümt gelebten Individualität zu sprengen drohen - ein im Grunde mental verankerter Automatismus, der sich im Sinne der Aufrechterhaltung des Kollektivs als notwendig erweist. Die bereits angesprochene Differenzerfahrung führt nicht zu partieller oder gar gänzlicher Auflösung verhärteter Strukturen, sondern ganz im Gegenteil zu deren Zementierung. Olmers:
Störenfried und Retter des Kollektivs Die gesellschaftliche Akzeptanz der Verbindung wird durch ein von den Protagonisten als Überlistung geplantes und empfundenes Verhalten erlangt, das sich aber dem Bann des vorgefundenen und offenbar unverrückbaren Formalitätsvakuums nicht entziehen kann. Aufklärerische Überzeugungsstrategien werden gar nicht erst versucht, nicht nur deshalb, weil ihnen von vornherein der Erfolg versagt bliebe, sondern weil sie als Potentialität von den Figuren nicht gedacht werden können. Oberflächlich scheint sich das lustspielübliche Diktum bestätigt zu haben, die Gesellschaft sei mit ihren eigenen Mitteln geschlagen worden. In Wirklichkeit demonstriert sich nachgerade ihre 'Unhintergehbarkeit', das emanzipatorische Ausweichmanöver kehrt zu jenem Ursprung zurück, dem es entfliehen wollte. Sie, die Gesellschaft, ist zu Revisionen nur bereit, wenn diese sich in das enge mentale Korsett, das zu lockern sie nicht willens und nicht fähig ist, einschnüren lassen. Das, was dem Zuschauer als Auflehnung vermittelt wird, erweist sich als affirmatives Manöver, das nicht einfach als strategisch-bewusstes Unterfangen zu interpretieren ist, sondern vielmehr als Indiz für die mentale und ideologische Internalisierung, demzufolge als unverrückbare und unaushöhlbare Wirkmächtigkeit gesellschaftlicher Statik zu betrachten ist, die trotz 'aufklärerischer Anfechtungen' unvermindert ihre Triumphe feiert. Der satirische Impuls gerät unter den Einfluss mentaler Gegebenheiten, die ihn quasi von innen her aufweichen. Kotzebues "dramatisierte Studie biedermeierlicher Bürgermentalität" [18], sein in weiten Teilen sicher gelungenes "Porträt kleinbürgerlichen Unwesens" [19] entdeckt sich als fruchtbares Zeugnis bürgerlicher Mentalität im ausgehenden und beginnenden 19. Jahrhundert. Als wesentlicher Grundzug dieser Mentalität ist die bereits angesprochene moralische Indifferenz zu identifizieren. Das Oszillieren zwischen libertärem Gewährenlassen und moralischer Restriktion, wie es Kotzebue im Lustspiel exemplarisch vorführt, kann als Zeichen für einen Umbruch innerhalb der mentalen Landschaft angesehen werden - eine Krisensituation, die nachgerade orthodoxes Beharren auf moralischer Eindeutigkeit als Überlebensstrategie des Kollektivs herausfordert. Holger Dauer © TourLiteratur
/ Autor Lesen Sie auch den Beitrag: Meister des Banalen - Der Dramatiker August von Kotzebue Sekundärliteratur zu August von Kotzebue Anmerkungen [1] Der Hinweis Jacob Minors, Schiller habe "La petite ville" aus dem Französischen übertragen, ist falsch (vgl. Minor, Jacob: Kotzebue als Lustspieldichter. Zu seinem 150. Geburtstage am 3. Mai 1911. In: Bühne und Welt 13 (1911) Bd. II, S. 109). Schiller übersetzte für das Weimarer Hoftheater lediglich die beiden Picardschen Erfolgsstücke "Der Parasit" ("Médiocre et rampant le moyen de parvenir", 1797) und "Der Neffe als Onkel" ("Encore des Ménechmes", 1802); beide wurden 1803 in Weimar aufgeführt. [zurück] [2] Böttiger, Karl August: [Kritik zu Kotzebues "Die deutschen Kleinstädter"] In: Zeitung für die elegante Welt 2 (1802), S. 593. [zurück] [3] Schlegel, August Wilhelm: [Kritik zu Kotzebues "Die deutschen Kleinstädter"] In: Zeitung für die elegante Welt 2 (1802), S. 630. [zurück] [4] Schlegel, August Wilhelm: [Kritik zu Kotzebues "Die deutschen Kleinstädter"] In: Zeitung für die elegante Welt 2 (1802), S. 630. [zurück] [5] Haubl, Rolf: Zur Trivialität Kotzebues. Psychohistorische Anmerkungen. In: Sprachkunst 13 (1982), S. 60. [zurück] [6] Sengle, F[riedrich]: Wunschbild Land und Schreckbild Stadt. Zu einem zentralen Thema der neueren deutschen Literatur. In: Studium Generale 16 (1963), S. 619 - 631. [zurück] [7] Jünger, Johann Friedrich: Das Ehepaar aus der Provinz. Ein Originallustspiel. In: Ders.: Komisches Theater. 3 Theile. Leipzig 1792 - 1795, hier: 2. Theil. Zitiert nach: Schaer, Wolfgang: Die Gesellschaft im deutschen bürgerlichen Drama des 18. Jahrhunderts. Grundlagen und Bedrohung im Spiegel der dramatischen Literatur. Bonn 1963. (= Bonner Arbeiten zur deutschen Literatur. Bd. 7.), S. 113. [zurück] [8] Pütz, Peter: Zwei Krähwinkeliaden 1802/1848. Kotzebue - Die deutschen Kleinstädter. Nestroy - Freiheit in Krähwinkel. In: Die deutsche Komödie. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hrsg. v. Walter Hinck. Düsseldorf 1977, S. 179. [zurück] [9] Kotzebue, August von: Die deutschen Kleinstädter. Ein Lustspiel in vier Akten [1803]. Mit einem Nachwort von Otto C. A. zur Nedden. Stuttgart 1994. (= RUB. Bd. 90.), IV. Akt, 1. Szene, S. 62. - Alle nachfolgenden in Klammern gesetzten Akt-, Szenen- und Seitenzahlen beziehen sich auf diese Ausgabe. [zurück] [10] Vgl. bes. III, 9, S. 52 f. [zurück] [11] Krause, Markus: Das Trivialdrama der Goethezeit 1780 - 1805. Produktion und Rezeption. Bonn 1982. (= Mitteilungen zur Theatergeschichte der Goethezeit. Bd. V.), S. 477. [zurück] [12] Requate, Jörg: Kommunikation/Neuzeit. In: Europäische Mentalitätsgeschichte. Hauptthemen in Einzeldarstellungen. Hrsg. v. Peter Dinzelbacher. Stuttgart 1993. (= KTA. Bd. 469.), S. 394. [zurück] [13] Knigge, Adolf Freiherr von: Über den Umgang mit Menschen [1788]. Mit einer Einführung von Alexander von Gleichen-Rußwurm. Leipzig 1913. (= Deutsche Bibliothek. Bd. 46.), S. 25. [zurück] [14] Knigge, Adolf Freiherr von: Über den Umgang mit Menschen [1788]. Mit einer Einführung von Alexander von Gleichen-Rußwurm. Leipzig 1913. (= Deutsche Bibliothek. Bd. 46.), S. 24. [zurück] [15] Knigge, Adolf Freiherr von: Über den Umgang mit Menschen [1788]. Mit einer Einführung von Alexander von Gleichen-Rußwurm. Leipzig 1913. (= Deutsche Bibliothek. Bd. 46.), S. 22. [zurück] [16] Stocker, Karl: Beispiel einer "gebrochenen" Komödie: "Die deutschen Kleinstädter" von August von Kotzebue. In: Ders.: Die dramatischen Formen in didaktischer Sicht. Donauwörth 1972, S. 99. [zurück] [17] Zur 'Störenfriedformel' als charakteristisches Strukturmerkmal populärer Dramatik vgl. Klotz, Volker: Bürgerliches Lachtheater. Komödie, Posse, Schwank, Operette. München 1980, bes. S. 18. [zurück] [18] Stocker, Karl: Beispiel einer "gebrochenen" Komödie: "Die deutschen Kleinstädter" von August von Kotzebue. In: Ders.: Die dramatischen Formen in didaktischer Sicht. Donauwörth 1972, S. 91. [zurück] [19] Ueding, Gert: Rührstücke: Kotzebue, Iffland. In: Ders.: Klassik und Romantik. Deutsche Literatur im Zeitalter der Französischen Revolution 1789 - 1815. München u. Wien 1987. (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bd. 4.), S. 320. [zurück] |