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Die
Macht des Vorbewussten - Mentalitätsgeschichte
und Kulturanthropologie 'Trivialliteratur'
und "seismographisches Gespür" Wenngleich dem Mentalitätsbegriff, der hier von Neuschäfer zur Diskussion gestellt wird, selbst in Kreisen der heutigen "Annales" mit zunehmender Skepsis [5] begegnet wird, scheinen seine Möglichkeiten gerade für literaturwissenschaftliche Arbeiten noch kaum ausgeschöpft zu sein. Obwohl beispielsweise Jacques Le Goff bereits 1974 darauf verwies, dass sich die Geschichte der Mentalitäten - gedeutet als "Geschichte nicht von 'objektiven' Phänomenen, sondern von der Repräsentation dieser Phänomene" - "naturgemäß von Dokumenten des Imaginären" [6] nähre, bilden entsprechende Arbeiten eher die Ausnahme. Affektive
Dispositionen Die enge, ja entscheidende Verbindung zwischen Verhalten und Mentalität, die hier allenfalls eine nebengeordnete Rolle spielt, demonstriert sich bei dem Historiker Volker Sellin als unabdingbares Elementarverhältnis. Sellin versteht Verhaltensweisen, in denen sich Mentalitäten Ausdruck verschaffen, als unmittelbare Offenbarungen kollektiver Sinnzuweisungen, als sinnfällig gewordene Realisierungen von Dispositionen, somit als in symbolische Formen gegossene mentale Kollektivverfassungen. Volker
Sellin - Verhalten und kollektive Einstellungen Der
Einfluss psychischer Kategorien und Prozesse Erwartungsdispositionen
und Orientierungsfunktion Erich Schön schließlich geht von einem Mentalitätsbegriff aus, der insbesondere die sozio-kulturelle Orientierungs- und Kontrollfunktion von Mentalität akzentuiert; diese ist somit das wohl wesentlichste Instrument der Gruppenintegration und als stabilisierender Faktor im Sinne der Selbsterhaltung für das jeweilige Kollektiv unentbehrlich. Erich Schön konzediert:
Gerade in der von Schön angesprochenen Differenzerfahrung, in der Konfrontation des mental festgefügten Kollektivs mit dem Fremden, offenbart sich die spannungsgeladene Dimension der Mentalität, die trotz ihrer relativen Stabilität und Dauerhaftigkeit Irritationen vornehmlich sozioökonomischer Art ausgesetzt ist, die die Notwendigkeit ständiger und beharrlicher Selbstvergewisserung nach sich zieht. Clifford
Geertz - Semiotischer Kulturbegriff Die inhaltliche Ausdifferenzierung von "Kultur" als "ineinandergreifende Systeme auslegbarer Zeichen" einerseits und als "Kontext" andererseits, in dem etwa Ereignisse, gesellschaftliche Prozesse und Verhaltensweisen verstehbar werden, impliziert einen symbolischen Handlungsbegriff, der menschliche Verhaltensweisen immer auch als über sich hinausweisende Aktionsmuster interpretiert. [18] Da mit Hilfe jener kollektiv weitgehend verbindlichen symbolischen Vorstellungsgefüge Weltorientierung vorgenommen bzw. erst ermöglicht wird, gewinnt "Kultur" als geordnetes System von Bedeutungen und Symbolen grundlegende Bedeutung für gesellschaftliche Interaktion und deren Ablauf in gesicherter Permanenz. Hier besonders liegen die Anknüpfungspunkte für Ethnologie und Mentalitätsgeschichte. Sowohl Geertz als auch Sellin verstehen menschliches Verhalten als symbolisches Handeln, wodurch es etwa mit der sprachlichen Lautbildung oder dem Klang in der Musik vergleichbar wird. Insofern geht es beiden nicht um den "ontologischen Status" [19] des Verhaltens, sondern um seine Bedeutung: Was wird mit Handlungen und durch sie gesagt? Interdisziplinarität
und 'Überwindung' von Fremdheit In solcher Interdisziplinarität liegt denn überhaupt die Chance, sich einem solch umfassenden Gegenstand wie den Mentalitäten sinnvoll zu nähern; gerade durch die Komplexität verbietet sich ein eindimensionaler Zugriff, der wesentliche Aspekte unberücksichtigt ließe. Hierbei bedeutet das disziplinäre Einherschreiten keineswegs ein Verzicht auf wissenschaftliche Souveränität: Es geht nicht um Verschmelzung, die spezifische Konturen verwischen würde, sondern um momentane Zweckbündnisse zugunsten einer Multiplizierung des interpretatorischen Aneignungsprozesses. Das heißt ganz allgemein: Interdisziplinarität verstanden nicht als "Multidisziplinarität", also als mehr oder weniger verworrenes Nebeneinander theoretischer Ansätze zum selben Gegenstandsbereich, sondern im wissenschaftspragmatischen Sinne als Versuch der "Überwindung von einzelnen Trennungslinien zwischen den Fragestellungen verschiedener Disziplinen", als Ausdruck der grundsätzlichen gegenseitigen Ergänzungsbedürftigkeit der Disziplinen, letztlich als "Möglichkeit und Chance, neue Diskurse zu produzieren und damit neue Anwendungsbereiche bestehender Methoden und Theorien zu ermöglichen". [21] Im übrigen nimmt sich seit mehr als zehn Jahren auch die Theaterwissenschaft der kulturanthropologischen Implikationen an. So stellt Christopher B. Balme in einem 1994 erschienenen Beitrag zu "Kulturanthropologie und Theatergeschichtsschreibung" fest, dass die Zusammenführung beider Disziplinen "ein problematisches Unterfangen [sei], jedoch nicht ohne Aussicht auf Erfolg". Balme exemplifiziert seine Überlegungen anhand einer knappen historischen Betrachtung der englischen und italienischen Theatertruppen des ausgehenden 16. Jahrhunderts. Mit Hilfe wichtiger Begriffe aus der verstehenden Anthropologie ließe sich, so Balme, beispielsweise nachweisen, dass diese Theater "als Wirtschaftsform nicht nur den Verkauf von Unterhaltung bedeutete[n], sondern auch den Handel mit Symbolwerten" einschlossen - eine Feststellung, die für eine mentalitätshistorische Untersuchung von großer Wichtigkeit werden kann. [22] Literarische
Zeugnisse und mentale Realität Innerliterarischer
Diskurs Dies bedeutet, dass Realitätsbezug bereits im Stadium der textlichen Produktion manifest wird: Die Entscheidung für eine Textsorte und die ihr eigenen Schreibregeln zieht einen intentional unterlegten, je verschiedenen Wirklichkeitscharakter nach sich. Real ist demnach nicht nur "die vom Text anvisierte Realität, sondern gerade die Art, wie er sie in der Geschichtlichkeit seiner Produktion und der Strategie seiner Schreibweise anvisiert". [23] Wenn es darum geht, kollektive Mentalitäten im Text nachweisen zu wollen, so wäre dieser Sachverhalt zusammenzufassen, ist es von unabdingbarer Notwendigkeit, sich auf den jeweiligen innerliterarischen Diskurs einzulassen. Holger Dauer ©
TourLiteratur / Autor Buchcover
(von oben nach unten): Anmerkungen [1] Neuschäfer, Hans-Jörg: Die Krise des Liberalismus und die Störung des bürgerlichen Normensystems. Ein Beitrag zur Mentalitätsgeschichte des späten 19. Jahrhunderts aus der Sicht des Feuilletonromans. In: Die Modernisierung des Ich. Studien zur Subjektkonstitution in der Vor- und Frühmoderne. Hrsg. v. Manfred Pfister. Passau 1989. (PINK. Passauer Interdisziplinäre Kolloquien. Bd. 1.) S. 131. [zurück] [2] Neuschäfer, Hans-Jörg: Die Krise des Liberalismus und die Störung des bürgerlichen Normensystems. Ein Beitrag zur Mentalitätsgeschichte des späten 19. Jahrhunderts aus der Sicht des Feuilletonromans. In: Die Modernisierung des Ich. Studien zur Subjektkonstitution in der Vor- und Frühmoderne. Hrsg. v. Manfred Pfister. Passau 1989. (PINK. Passauer Interdisziplinäre Kolloquien. Bd. 1.) S. 132. [zurück] [3] Neuschäfer, Hans-Jörg: Die Krise des Liberalismus und die Störung des bürgerlichen Normensystems. Ein Beitrag zur Mentalitätsgeschichte des späten 19. Jahrhunderts aus der Sicht des Feuilletonromans. In: Die Modernisierung des Ich. Studien zur Subjektkonstitution in der Vor- und Frühmoderne. Hrsg. v. Manfred Pfister. Passau 1989. (PINK. Passauer Interdisziplinäre Kolloquien. Bd. 1.) S. 132. [zurück] [4] Neuschäfer, Hans-Jörg: Die Krise des Liberalismus und die Störung des bürgerlichen Normensystems. Ein Beitrag zur Mentalitätsgeschichte des späten 19. Jahrhunderts aus der Sicht des Feuilletonromans. In: Die Modernisierung des Ich. Studien zur Subjektkonstitution in der Vor- und Frühmoderne. Hrsg. v. Manfred Pfister. Passau 1989. (PINK. Passauer Interdisziplinäre Kolloquien. Bd. 1.) S. 123. [zurück] [5] Vgl. etwa Borgolte, Michael: "Selbstverständnis" und "Mentalitäten". Bewußtsein, Verhalten und Handeln mittelalterlicher Menschen im Verständnis moderner Historiker. In: Archiv für Kulturgeschichte 79 (1997), S. 189. Die Anfänge der "Annales" reichen zurück bis in das Jahr 1929, in dem Marc Bloch und Lucien Febvre die Zeitschrift "Annales d`histoire économique et sociale" ins Leben riefen (1946 fortgeführt u.d.T. "Annales. Économies - Sociétés - Civilisations). 1947 erfolgte mit der Gründung der "Sixième Section" für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in Paris die institutionelle Etablierung der mentalitätshistorischen Methode. [zurück] [6] Le Goff, Jacques: Eine mehrdeutige Geschichte. Aus dem Französischen von Michael Ott. In: Mentalitäten-Geschichte. Zur historischen Rekonstruktion geistiger Prozesse. Hrsg. v. Ulrich Raulff. Berlin 1987, S. 27. (Wagenbachs Taschenbücherei. Bd. 152.) [Original zuerst: 1974] Hervorhebung im Original. [zurück] [7] Linke, Angelika: Sprachkultur und Bürgertum. Zur Mentalitätsgeschichte des 19. Jahrhunderts. Stuttgart / Weimar 1996, S. 25. [zurück] [8] Reichardt, Rolf: "Histoire des Mentalités". Eine neue Dimension der Sozialgeschichte am Beispiel des französischen Ancien Régime. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 3 (1978), S. 131. [zurück] [9] Zitate: Tellenbach, Gerd: "Mentalität". In: Geschichte, Wirtschaft, Gesellschaft. Festschrift für Clemens Bauer zum 75. Geburtstag. Hrsg. v. Erich Hassinger [u.a.]. Berlin 1974, S. 22. [zurück] [10] Alle Zitate: Sellin, Volker: Mentalität und Mentalitätsgeschichte. In: Historische Zeitschrift [HZ] 241 (1985) S. 569, 571, 576, 580. [zurück] [11] Frijhoff, Willem Th. M.: Kultur und Mentalität: Illusion von Eliten? Aus dem Niederländischen von Gerhard Jaritz. In: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 2 (1991), S. 30. [zurück] [12] Frijhoff, Willem Th. M.: Kultur und Mentalität: Illusion von Eliten? Aus dem Niederländischen von Gerhard Jaritz. In: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 2 (1991), S. 31. [zurück] [13] Reichardt, Rolf: "Histoire des Mentalités". Eine neue Dimension der Sozialgeschichte am Beispiel des französischen Ancien Régime. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 3 (1978), S. 131. [zurück] [14] Reichardt, Rolf: "Histoire des Mentalités". Eine neue Dimension der Sozialgeschichte am Beispiel des französischen Ancien Régime. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 3 (1978), S. 131. [zurück] [15] Geiger, Theodor: Die soziale Schichtung des deutschen Volkes. Soziographischer Versuch auf statistischer Grundlage. Stuttgart 1932. (Soziologische Gegenwartsfragen. H. 1.), S. 77. Hierzu setzt Geiger in seinem für die deutsche Mentalitätsgeschichte und -geschichtsschreibung wichtigen Buch zur "sozialen Schichtung des deutschen Volkes" die "fest-geformt[e]" Konsistenz der Ideologie in deutlichen Gegensatz: Ideologie ist "geistiger Gehalt", "Reflexion" und "Selbstauslegung", Mentalität hingegen "geistig-seelische Haltung", "Lebensrichtung", "Atmosphäre". Ebd., S. 77f. [zurück] [16] Schön, Erich: Der Verlust der Sinnlichkeit oder Die Verwandlungen des Lesers. Mentalitätswandel um 1800. Stuttgart 1993. (Sprache und Geschichte. Bd. 12.), S. 29. [zurück] [17] Sellin, Volker: Mentalität und Mentalitätsgeschichte. In: Historische Zeitschrift [HZ] 241 (1985) S. 576. [zurück] [18] Alle Zitate: Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur. In: Ders.: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Übersetzt v. Brigitte Luchesi u. Rolf Bindemann. 3. Aufl. Frankfurt/M. 1994. (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft. 696.) S. 9, 15, 16, 21. [zurück] [19] Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur. In: Ders.: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Übersetzt v. Brigitte Luchesi u. Rolf Bindemann. 3. Aufl. Frankfurt/M. 1994. (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft. 696.) S. 16. [zurück] [20] Beide Begriffe: Peukert, Detlev: Neuere Alltagsgeschichte und Historische Anthropologie. In: Historische Anthropologie. Der Mensch in der Geschichte. Hrsg. v. Hans Süssmuth. Göttingen 1984. (= Kleine Vandenhoeck-Reihe. 1499.) S. 57. [zurück] [21] Zitate: Reinalter, Helmut: Interdisziplinarität, Methodenprobleme und Mentalitätshistorie. In: Geisteswissenschaften wozu? Studien zur Situation der Geisteswissenschaften. Hrsg. v. Helmut Reinalter u. Roland Benedikter. Wien u. München 1997. (= Interdisziplinäre Forschungen. Bd. 6.) S. 107 und S. 110. [zurück] [22] Zitate: Balme, Christopher B.: Kulturanthropologie und Theatergeschichtsschreibung: Methoden und Perspektiven. In: Arbeitsfelder der Theaterwissenschaft. Hrsg. v. Erika Fischer-Lichte, Wolfgang Greisenegger u. Hans-Thies Lehmann. Tübingen 1994. (= Forum modernes Theater. Bd. 15.) S. 46, 55. [zurück] [23] Alle Zitate: Chartier, Roger: Intellektuelle Geschichte und Geschichte der Mentalitäten. Aus dem Französischen v. Eva Groepler. In: Mentalitäten-Geschichte. Zur historischen Rekonstruktion geistiger Prozesse. Hrsg. v. Ulrich Raulff. Berlin 1987. (= Wagenbachs Taschenbücherei. 152.) S. 91. [zurück] |