Literatur-Nobelpreis
2004 für Elfriede Jelinek
Die
57-jährige österreichische Schriftstellerin Elfriede Jelinek
erhält den Literatur-Nobelpreis des Jahres 2004. Dies gab der Sprecher
der Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften, der Publizist
Per Wästberg, am Donnerstag, den 7. Oktober 2004 bekannt. Jelinek ist
erst die zehnte Frau in der 103-jährigen Geschichte des Nobelpreises,
die die Ehrung erhält, zugleich die erste deutschsprachige Autorin
seit Nelly Sachs im Jahr 1966. In der Begründung der Schwedischen Akademie
heißt es, Jelinek werde geehrt "für den musikalischen Fluss von Stimmen
und Gegenstimmen in Romanen und Dramen, die mit einzigartiger sprachlicher
Leidenschaft die Absurdität und zwingende Macht der sozialen Klischees
enthüllen". Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) würdigte
in einem Glückwunschschreiben die "große sprachliche
Kunstfertigkeit" Jelineks, mit der sie es geschafft habe, "die
Gesichter unserer Gesellschaft klar zu zeichnen". Die Auszeichnung
ist mit umgerechnet etwa 1,1 Millionen Euro dotiert und wird am 10.
Dezember 2004, dem Todestag Alfred Nobels, verliehen.
Im letzten Jahr wurde der Südafrikaner J.M. Coetzee mit dem Nobelpreis
für Literatur geehrt.
"Elfriede
Jelinek", schreibt Inge Treichel (in: Spiegel Online vom 7. Oktober
2004), "gilt als radikale Feministin und Provokateurin, deren Werk
auf artistischem Sprachniveau rangiert und daher als schwer zugänglich
gilt." Sie wurde am 20. Oktober 1946 in Mürzzuschlag (Steiermark/Österreich)
geboren. Nach dem Abitur studierte sie Musik, Theaterwissenschaft und
Kunstgeschichte in Wien. Am Wiener Konservatorium studierte sie Kompositionslehre
und erwarb 1971 das Organisten-Diplom. Von 1973 bis 1992 war sie Mitglied
der Grazer Autorenversammlung. Seit 1993 ist sie Ehrenpräsidentin
der Österreichischen Dramatiker-Vereinigung. 1967 erschien ihr
erstes Werk, der Gedichtband "Lisas Schatten". Elfriede Jelinek
lebt in Wien.
Zu ihren
bekanntesten Werken zählen die Roman- und Prosabände "Die
Liebhaberinnen" (1975/1978), "Die Ausgesperrten" (1980),
"Die Klavierspielerin" (1983), "Oh Wildnis, oh Schutz
vor ihr" (1985), "Lust" (1989), "Die Kinder der
Toten" (1995) und "Gier" (2000) sowie die Theaterstücke
"Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte" (1979),
"Clara S." (1982), "Totenauberg" (1992), "Raststätte
oder Sie machen's alle" (1994), "Stecken, Stab und Stangl"
(1996), "Ein Sportstück" (1998), "Das Lebewohl"
(2000), "In den Alpen" (2002), "Das Werk" (2003),
"Bambiland" (2003) und "Irm & Margit" (2004). Außerdem
schrieb sie zahlreiche Libretti, Filmdrehbücher und Hörspiele,
darunter "Wien West" (1972), "Die Jubilarin" (1978),
"Frauenliebe - Männerleben" (1982), "Präsident
Abendwind" (1992) und zuletzt "Jackie" (2003).
Jelineks Werk wurde vielfach ausgezeichnet, so u.a. mit dem Heinrich-Böll-Preis
der Stadt Köln (1986), dem Peter-Weiss-Preis für Literatur
der Stadt Bochum (1994), dem Bremer Literaturpreis der Rudolf-Alexander-Schröder-Stiftung
(1996), dem Georg-Büchner-Preis (1998), dem Heinrich-Heine-Preis
der Landeshauptstadt Düsseldorf (2002), dem Berliner Theaterpreis
der Stiftung Preußische Seehandlung (2002), dem Mülheimer
Dramatikerpreis (2002 und 2004), dem Else-Lasker-Schüler-Dramatikerpreis
des Pfalztheaters Kaiserslautern für das dramatische Gesamtwerk (2003)
und dem Hörspielpreis der Kriegsblinden (2004). Am 1. November 2004
wird Elfriede Jelinek der Franz-Kafka-Literaturpreis in Prag üerreicht
werden.
Pressestimmen
zu Jelinek und zum Nobelpreis
Rose-Maria
Gropp in der "FAZ" Nr. 235 vom 8. Oktober 2004:
"Dass Elfriede Jelinek den Literaturnobelpreis erhält, ist eine
in jedem Sinn phantastische Entscheidung der Stockholmer Akademie. (...)
Denn in Elfriede Jelinek wird eigentlich ein Sprachstrom gewürdigt,
ein nicht abreißen wollender unruhiger Fluss, der sich ohne Halten in
seine Richtung ergießt und den ganzen Abraum fehlgelaufener Körper-
und Völkerpolitiken vor sich herschiebt."
Paul
Jandl in der "Neuen Zürcher Zeitung" vom 7. Oktober 2004:
"Ihre Prosa rast mit hohem Tempo durch Seelen- und Heimatlandschaften.
Zitate aus Literatur und Kitsch, Redensarten und Redensunarten werden
in jenen kalauernden Sound gebracht, der so typisch ist für diese Literatur.
Elfriede Jelineks schreiberische Produktion ist eine des Überfließens."
Gerhard
Stadelmaier in der "FAZ" Nr. 234 vom 7. Oktober 2004:
"Ihre Theatertexte handeln beziehungsweise handeln nicht, sondern reden,
singen, kalauern stimmen- und gegenstimmenmäßig von nichts anderem als
von: Opfern. Das größte und erste Opfer: die Frau. (...) Zu den Beobachtungen,
Meinungen und Vermutungen, die sie in ihren Stücken äußert, kann man
eigentlich immer nur mit dem Kopf nicken - oder diesen schütteln. (Nichts
Drittes.)"
Eckhard
Fuhr in der "Welt" vom 9. Oktober 2004:
"Das letzte Wort über Elfriede Jelinek ist mit der Verleihung des
Nobelpreises sicher noch nicht gesprochen worden. Mutig muss man die
Entscheidung der Akademie wohl nennen. An Elfriede Jelinek scheiden
sich die Geister, und sie scheiden sich in ihrem Fall nicht an der Frage
politischer Ratio wie beim Nobelpreis für Dario Fo, sondern an der Literatur,
also an der Frage, ob das, was die Jelinek schreibt, Literatur sei oder
nur deren Behauptung."
Verena
Mayer in der "Frankfurter Rundschau" vom 8. Oktober 2004:
"Bei aller Deutlichkeit zeichnet sich das Werk Elfriede Jelineks
dadurch aus, dass sich die Sprache erst einmal selbst genügt. Bei ihr
erschlagen sich die Bilder vorsätzlich und mit einer seltenen Vernichtungswut."
Iris
Radisch in der "Zeit" Nr. 43 vom 14. Oktober 2004:
"Elfriede Jelinek ist eine Heilige der menschlichen Schlachthöfe
und hat für ihre inbrünstigen Ekstasen des Negativen Lob und Ehre verdient.
Dennoch sieht es in diesem Fall ganz so aus, als habe man einem Hamster
im Laufrad den weltweit bedeutendsten Preis für Langstreckenlauf verliehen.
(...) Ihre Bücher sind leer. Und wollen es sein. Leer an Erfahrung,
leer an Gefühlen, leer an Poesie. (...) Betritt man den Kosmos der Jelinekschen
Bücher, verwandelt sich die ganze Welt mit einem Wimpernschlag in eine
Kloake, werden aus Männern gewaltgeile Schweine, aus Frauen lüsterne
unterwerfungsbereite Säue, aus der Steiermark ein Leichenfeld. (...)
Moralisch ein Volltreffer, ästhetisch eine Kapitulation, literarisch
letzten Endes provinziell. (...) Ihre größte Begabung ist neben ihrer
irrlichternden Sprachmusikalität sicherlich ihre unerschütterliche Menschenfeindschaft."
Armgard
Seegers im "Hamburger Abendblatt" vom 8. Oktober 2004:
"Jelinek verkörpert das, was eine Schriftstellerin definiert: Sie
erinnert uns an die Vergangenheit, sie mischt sich politisch ein, sie
schafft Erkenntnisse mit ihren Obsessionen, sie kann sich einfühlen
in Ausgestoßene, sogar in den Feind. Sie hat das, was man früher Ethos
nannte."
Joëlle
Stolz in "Le Monde" vom 8. Oktober 2004:
"Il fallait que ça lui arrive, justement à elle: la scandaleuse
est béatifiée, la dérangeante se retrouve sur l'étagère des nobélisés,
la "Nestbeschmutzerin", celle qui "souille le nid natal" depuis trente
ans est fêtée par l'Autriche comme une championne olympique. Mais Elfriede
Jelinek est une athlète de la langue, une moraliste dans la lignée de
Karl Kraus ou de Thomas Bernhard."
Michael
Opitz bei Deutschlandfunk/DeutschlandRadio online vom 7. Oktober 2004:
"Elfriede Jelinek hat ein beeindruckendes und ein äußerst vielseitiges
Werk vorzuweisen. Mit der Vergabe des Nobelpreises an eine politisch
engagiert schreibende Autorin hat die Schwedische Akademie ein Signal
gesetzt. Sie ehrt eine Schriftstellerin, die sich mit ihrer Literatur
einmischt in gegenwärtige Prozesse und Schreiben als kritische Arbeit
begreift."
Thomas
Borchert in der "Allgemeinen Zeitung" (Mainz) vom 8. Oktober
2004:
"Mit dem Nobelpreis ehrt das Stockholmer Komitee eine Autorin,
die Kunst untrennbar mit gesellschaftspolitischer Stellungnahme verbindet
und dabei gleichzeitig neue sprachliche Wege beschreitet. Ihre pointierten
Texte gestaltet die 57-jährige, musikalisch ausgebildete Autorin nicht
als politische Pamphlete. In langen, oft über Seiten hinweg absatzlosen
Textflächen flicht sie verschiedene sprachliche Ebenen ineinander und
entlarvt die Mechanismen, die sie anprangert, durch die Sprache der
Akteure und durch Klischees."
Klaus
Nüchtern in der "Berliner Zeitung" vom 8. Oktober 2004:
"Die Position der souveränen, ihre Leser belehrenden Aufklärerin
gibt es in ihren Romanen und Theaterstücken nicht; ganz im Gegenteil
bezieht das Jelinek'sche Schaffen seinen - wenn man so will: perversen
- Reiz gerade daraus, dass jegliche Souveränität der Rede unterlaufen
wird: eine nachgerade körperliche Tätigkeit im Steinbruch der Sprache.
In diesem und nur in diesem Sinne ist ihr Werk denn auch utopisch. (...)
Jelinek steht beidbeinig in der sprachskeptischen Tradition österreichischer
Nachkriegsavantgarde - und dennoch haust gerade hier ein eigentümlicher
Glaube an eine Wahrheit, die ausgerechnet von der beschädigten, gequälten
Sprache ausgeplaudert wird."
Die
Homepage von Elfriede Jelinek
Weiterführende
Links zu Elfriede Jelinek
Homepage
der Stockholmer "Nobel Foundation"
Die
Begründung im Wortlaut (englisch) auf der Homepage der "Nobel Foundation"
Mehr
zum Literatur-Nobelpreis (u.a. alle Preisträgerinnen und Preisträger)
Buchcover
(von oben nach unten):
1) Kurt Bartsch / Günther A. Höfler (Hrsg.): Elfriede Jelinek.
Dossier 2. Graz: Literaturverlag Droschl 1991.
2) Elfriede Jelinek: Gier. Ein Unterhaltungsroman. Reinbek: Rowohlt
Verlag 2000.
3) Elfriede Jelinek: Lust. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch 1992.
(TourLiteratur
10 / Oktober 2004)
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