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Rezensionen > Henschel, Gerhard: Kindheitsroman

In der Krabbelkiste der Erinnerung
Obskure Opulenz - Gerhard Henschels "Kindheitsroman"

Gerhard Henschel: Kindheitsroman.
Hamburg: Verlag Hoffmann & Campe 2004
ISBN 3-455-03171-4
494 Seiten
EURO 22,90


Martin Schlosser hat wichtige Erkenntnisse gesammelt. Etwa die: Jungen bekommen bessere Geschenke als M�dchen - Wildwestforts mit Cowboys, Donald-Duck-B�cher, Plastikpistolen. M�dchen m�ssen mit Strumpfhosen im H�kellook, kniehohen Lederstiefeln oder bestenfalls buntem Briefpapier Vorlieb nehmen. Martin Schlosser wei�, wovon er spricht. Immerhin hat er etliche Weihnachts- und Geburtstagsfeste miterleben d�rfen, damals, in den 60er und fr�hen 70er Jahren. Die l�sst er Revue passieren, emotionslos, wortreich, ohne Hektik, aber auch - ohne erkennbaren Sinn.

Martin Schlosser ist der jugendliche Held des neuen Romans von Gerhard Henschel. Der Knabe w�chst in Koblenz auf, zieht sp�ter mit seinen drei Geschwistern vom Deutschen Eck nach Vallendar am Rhein, wo die Familie, zu bescheidenem Wohlstand gekommen, ein Eigenheim erwirbt. Inge und Richard Schlosser, die Eltern, haben bereits literarische Weihen empfangen. Vor zwei Jahren ver�ffentlichte Henschel seinen zu Recht hoch gelobten Briefroman "Die Liebenden", in dem er die Geschichte der Familie Schlosser von der Zeit des Nationalsozialismus bis ins Jahr 1993 schildert. Nun kommt das zweitj�ngste Kind zu Wort. Aber: Was hat es eigentlich zu sagen?

Martin Schlosser w�hlt in der prall gef�llten Krabbelkiste seiner Kindheitserinnerungen, f�gt Vergangenheitsfetzen zusammen, sammelt Indizien eines abgelebten Lebens zwischen Sandkasten und Carrerabahn - bunte Mosaiksteinchen, die doch kein klares Bild ergeben. Die fadenscheinigen H�hepunkte dieses Lebens lassen sich vornehmlich an Fernsehereignissen festmachen. Der dicke Bonanza-Hoss, die Abenteuer des smarten Detektiven Percy Stuart, Graf Yoster, der sich allw�chentlich die Ehre gibt - Serienhelden sind es, die das Weltbild des kleinen Martin pr�gen, �ffentlich-rechtliche Identit�tsstifter. Besser noch, denkt Martin, w�re ein Dasein wie Tom Sawyer und Huckleberry Finn oder wie Tarzan, der einen Wasserfall als Dusche hat und mit blo�en H�nde Fische f�ngt. Kindliches Zur�ck zur Natur, aber bitte mit Dr. Oetker Eis-Vergn�gen!

Apropos Werbung: Auch sie ist omnipr�sent, pr�gt Sprache und Lebenssicht. Das HB-M�nnchen, Meister Propper und Klementine mit der Arieltrommel: Nicht nur sauber, sondern rein. Ein gutes Motto �brigens f�r den ganzen Roman. Saubere, klinisch reine S�tze. So sauber, dass man sich drin spiegeln kann. K�nnte. Doch der Spiegel bleibt stumpf, zeigt verwischte Konturen. Mehr nicht. Darauf einen Dujardin!

Nebenbei gibt es nat�rlich noch die Schule. Dort entwickeln sich erste zarte Bande, erst mit der bezopften Melanie, dann mit der exotischen Piroschka. Dazu passend: der Sexualkunde-Unterricht bei der r�hrig-gestrengen Frau Katzer: "Was hat Peter, was Evi nicht hat?" Dazwischen: Radtouren in den Hunsrück, Klassenfahrten nach Maria Laach, Ausfl�ge in die heimische Flora, wo man im Gestr�pp Pornohefte und andere n�tzliche Dinge entdecken kann, die die Phantasie vorpubert�rer Knirpse zu bereichern versprechen. In den Ferien geht es nach Jever zu Oma und Opa oder zur lebenslustigen Patentante Dagmar nach Hannover, bei der man zum Fr�hst�ck Cola trinken und bis in die Puppen Fernsehen darf.

Doch die Zeiten �ndern sich, Martin wird Zeuge gewaltiger Umbr�che: Bonanza wird von Big Valley abgel�st, Flipper, der kluge Delphin, von Skippy, dem K�nguruh. Derweil wird der stets m�rrische Vater zum Regierungsbaudirektor bef�rdert, w�hrend die Mutter Rhabarber einkocht und die vierk�pfige Rasselbande mit den unumst��lichen Grunds�tzen bundesdeutscher Mittelstandserziehung bekannt macht: "Man spricht nicht mit vollem Mund", "Sitz gerade", "Stell dich nicht so an". Im Zweifel setzt es Ohrfeigen. "Basta!"

Das alles wird brav erz�hlt, in einer artig stilisierten Kindersprache. Doch der Funke springt nicht �ber. Kein Knistern, nirgends. In Henschels br�chiges Kleinb�rgeridyll schleichen sich unwillk�rliche Verkl�rungen ein. Es bleibt: eine schale Chronik nostalgischer Gef�hle. Vor allem: der Roman ist viel zu lang geraten. Pausenlose enervierende Wiederholungen, epische Endlosschleifen, unendlich viele Seiten f�llen sich mit Auflistungen von Geschenken, Mittagessen, Bundesligatabellen. Der Dramatiker Heiner M�ller hat einst vom "anderen" gesprochen, das es in der "Wiederholung des Gleichen" zu entdecken gelte. Davon ist Henschels Standspur-Prosa weit entfernt. Leider.

Holger Dauer

© TourLiteratur / Autor
Alle Rechte vorbehalten

Eine gekürzte Fassung der Rezension erschien zuerst in der "Allgemeinen Zeitung", Mainz (Nr. 94 vom 22. April 2004, S. 6).

Buchcover: © Hoffmann & Campe, Hamburg

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