Rezensionen > Indriðason, Arnaldur: Abgründe |
Unter "Expansionswikingern" Arnaldur Indriðasons neuer Roman "Abgründe" ist bereits das zehnte Abenteuer des Reykjavíker Kriminalistenteams um Kommissar Erlendur - und das zweite, in dem der immer ein bisschen in sich gekehrte Chef der Truppe gar nicht auftaucht. Er weilt nämlich seit geraumer Zeit in den Ostfjorden, um sich endlich seiner traumatischen Vergangenheit, von der der Leser einiges in "Kälteschlaf" (Lübbe 2007) erfuhr, zu stellen. Hart für Erlendur - gut für seine Mitarbeiter. Die hatten in den Bänden 1 bis 8 immer ein wenig abseits gestanden. Nun bekommen sie Soloauftritte und gewinnen merklich an Profil. War es in "Frevelopfer" Kommissarin Elínborg, die Licht in das Dunkel eines vertrackten Falles um eine Vergewaltigung und deren mörderische Folgen brachte, ist nun, im Jubiläumsband "Abgründe", ihr jüngerer Kollege Sigurður Óli an der Reihe. Die erzählte Zeit der beiden letzten Romane ist dabei ungefähr die gleiche. Denn ab und an lässt der ungestüme Kommissar, der als Figur nicht unbedingt sympathisch ist, den Leser wissen, womit sich seine arg gestresste Kollegin gerade beschäftigt. Und das sind dann - Indriðason vernetzt seine Bücher gern unauffällig miteinander - jeweils Rückblicke auf den vorangehenden Roman. In "Abgründe" nun geht es um die Vorgeschichte jener Wirtschafts- und Finanzkrise, die Island 2008 erreichte und fast in den Staatsbankrott trieb. Und es geht um jene "Expansionswikinger" genannten Anzugträger, die mit ein paar schnellen Computerklicks für eine wundersame Geldvermehrung sorgen konnten. Jedenfalls so lange, bis sich nicht mehr verbergen ließ, dass hier mehrheitlich mit heißer Luft und einer großen Portion Unverschämtheit gehandelt wurde. Vier von diesen "Experten" geraten zufällig in den Fokus von Sigurður Óli. Einer davon lebt gar nicht mehr - er kam auf einem gemeinsamen Ausflug an die Küste ums Leben, was damals, vor einem Jahr, schnell unter "tragischer Unfall" verbucht und nicht weiter verfolgt wurde. Nun aber sieht die Sache bei genauerem Hinschauen nicht mehr ganz so harmlos aus. Denn offensichtlich hatten die vier ein äußerst lukratives Geschäft in Aussicht, für das man allerdings auf jegliche Moral Verzicht leisten musste. Drei aus dem Bankerquartett waren sofort dazu bereit. Den Letzten aber plagte sein Gewissen. Musste er deshalb sterben? Bevor uns Indriðason in die Kreise jener Finanzjongleure mitnimmt, die nach und nach jegliche Bodenhaftung verloren, ehe das von ihnen emsig aufgebaute Kartenhaus krachend einstürzte, bringt er seinen Helden Sigurður Óli aber erst einmal in eine ganz persönliche Klemme. Ein alter Freund und Klassenkamerad bittet den Kriminalisten nämlich darum, ein bisschen Druck auf ein Erpresserpärchen auszuüben, das seinem Schwager und dessen Frau mit der Enthüllung unliebsamer Fakten aus deren Privatleben droht. Dummerweise lässt sich Indriðasons Held auch darauf ein und muss schon bald darauf in einem Fall ermitteln, in den er persönlich verstrickt ist, ohne dass er über diese Verstrickungen mit seinen Kollegen sprechen kann. Ein toter Finanzexperte, den seine Skrupel das Leben gekostet haben. Eine tote Erpresserin, deren allzu lockerer Lebensstil Ehen zu zerstören drohte. Ein Mann, der als Kind von seinem Stiefvater missbraucht wurde und sich, nachdem er ihm Jahrzehnte später wiederbegegnet ist, auf einen brutalen Rachefeldzug begeben hat. Vielleicht ist es etwas zu viel, was uns Arnaldur Indriðason in seinem neuen Roman erzählen will. Irgendwie bringt er die drei Fälle, die Abgründe behandelt, miteinander in Verbindung, eine innere Notwendigkeit, dass genau diese Fälle erzählt werden müssen, sucht man freilich vergebens. So bleibt letzten Endes unterm Strich die eine oder andere Passage, in der es der Autor den Bankern ordentlich gibt - aber wer tut das nicht nach den Enthüllungen der letzten Jahre. Und natürlich wird auch die Sehnsucht des Lesers nach Kommissar Erlendur immer größer. Denn der konservative, Literatur und Geschichte hassende Einzelgänger Sigurður Óli kann seinen Chef noch viel weniger ersetzen als die wenigstens mit menschlicher Wärme ausgestattete Elínborg. Also bitte, lieber Arnaldur Indriðason: Beenden Sie endlich Erlendurs Bußübungen in der Einsamkeit der Gletscherwelt, schenken Sie ihm inneren Frieden, was die Geschichte mit seinem Bruder angeht, und holen Sie ihn schnell wieder zurück an die Spitze des Reykjavíker Kommissariats! Dietmar Jacobsen © TourLiteratur
/ Autor Lesen Sie auch Dietmar Jacobsens Besprechung von Arnaldur Indriðasons "Eiseskälte" Buchcover: © Bastei Lübbe, Köln |
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