Rezensionen > Indriðason, Arnaldur: Eiseskälte |
Zwischen Pflicht und Neigung Normalerweise machen Krimiautoren, wenn sie aus dem europäischen Norden kommen, nach zehn Bänden Schluss mit einer Reihe. Arne Dahl hat das so gemacht mit den Romanen um seine A-Gruppe. Ã…ke Edwardson hat seinen Kommissar Winter nach dessen zehntem Fall bis auf Weiteres verabschiedet. Bei HÃ¥kan Nesser ermittelt seit dem Abgang des wunderbaren Inspektors van Veeteren ein Herr Barbarotti. Und die legendäre Serie, der alle Nachfolger mit dieser freiwilligen Beschränkung ihre Referenz erweisen - Maj Sjöwalls und Per Wahlöös Romanreihe um ihren Kommissar Martin Beck nämlich -, erschien zwischen 1965 und 1975 natürlich auch in genau zehn Bänden. Wenn mit "Eiseskälte" (Lübbe 2012), dem elften Roman Arnaldur Indriðasons um sein Reykjavíker Ermittlerteam, diese imaginäre Grenze nun überschritten wurde, so mag das daran liegen, dass der Isländer Indriðason sich weniger an diese wohl hauptsächlich seine schwedischen Kollegen betreffende Übereinkunft gebunden fühlt. Kenner der bisher vorliegenden zehn Bände könnten aber auch argumentieren, dass die Hauptfigur der Reihe, Kommissar Erlendur, in den letzten beiden Bänden gar nicht mehr aufgetreten ist, sondern sich von seinen beiden Mitarbeitern vertreten ließ. Während Kommissarin Elínborg in "Frevelopfer" (Lübbe 2010) ermittelte und ihr jüngerer Kollege Sigurður Óli sich mit den Auswüchsen der Finanzkrise in "Abgründe" (Lübbe 2011) herumzuschlagen hatte, weilte ihr Chef in den Ostfjorden, um sich an die Aufarbeitung traumatischer Kindheitserlebnisse zu machen. Erst mit "Eiseskälte" darf der Leser ihm nun zu den Stätten seiner Kindheit folgen, was auch bedeutet, dass das aktuelle Abenteuer Erlendurs erst das neunte ist, in dem der Kommissar höchstpersönlich figuriert. Aber ob nun Nummer 9 oder Nummer 11 – "Eiseskälte" ist für mich der bisher beste Roman der Reihe. Und das, obwohl das Buch komplett ohne Action auskommt. Dennoch hochspannend, präsentiert es eine geradezu mythische Geschichte um Liebe und Verrat, Eifersucht und Rache. Dort wo er aufgewachsen ist, will sich Erlendur dem furchtbaren Ereignis stellen, dass sein gesamtes Leben seit der Kindheit überschattet hat. In einem Schneesturm hatte er sich damals zusammen mit dem Vater und seinem jüngeren Bruder Bergur verirrt. Während Erlendur und der Vater sich allerdings wieder zurückfanden unter das Dach des Elternhauses, fehlt von Bergur seither jede Spur und Erlendur quälen Schuldgefühle, weil er sich verantwortlich fühlt für den schrecklichen Tod des Jungen, der nur auf das Zureden des Älteren mit in die Berge aufgebrochen war. Doch obwohl der Kommissar tagein, tagaus unterwegs ist in der kargen und eisigen Berglandschaft, finden sich keinerlei Spuren von dem Verschwundenen. Stattdessen stößt Erlendur aber auf andere Vermisstenfälle aus jener Unglücksnacht im Januar 1942, in der ein Schneesturm mit verheerender Gewalt die Gegend um den Berg Harðskafi heimsuchte. Ein ganzer Trupp englischer Soldaten geriet damals auf einem Passweg in die tobenden Elemente und eine junge Frau, die auf der entgegengesetzten Strecke zu Fuß zu ihrem Elternhaus unterwegs war, wird seitdem genauso vermisst wie Bergur. Ohne Anhaltspunkte bezüglich des Schicksals seines Bruders, beginnt Erlendur instinktiv, sich mit dem Schicksal der jungen, verheirateten Matthildur zu beschäftigen, da es bei genauerem Hinsehen doch einige Fragen aufwirft. Wieso zum Beispiel kann sich keiner der überlebenden englischen Soldaten daran erinnern, auf seinem Weg über den Pass der Frau begegnet zu sein, wenn sie doch auf demselben Pfad in der entgegengesetzten Richtung unterwegs gewesen sein soll? Und warum hat ihr Mann Jakob sie überhaupt gehen lassen und nicht zurückgehalten, wusste er doch genauso gut wie sie, dass mit urplötzlich sich ändernden Witterungsbedingungen in den rauen Bergen ihrer Heimat nicht zu spaßen ist. Da Jakob sieben Jahre später bei einem Schiffsunglück selbst ums Leben gekommen ist, kann sich Erlendur bei ihm nicht mehr nach den Geschehnissen jener Nacht erkundigen. Doch er findet in den Dörfern und kleinen Städten rund um den Harðskafi noch ein paar Zeugen, die sich an das seltsame Paar, welches Jakob und Matthildur einst gebildet hatten, noch gut erinnern können. Doch die meisten von ihnen wollen nicht sprechen und so muss sich der Kommissar selbst ganz langsam zu der grausamen Wahrheit durcharbeiten, die sich hinter der alten Geschichte verbirgt. Am Ende hat Erlendur zwei furchtbare Verbrechen aufgedeckt, die mehr als ein halbes Jahrhundert zurückliegen und nie gesühnt wurden. Er ist auf drei Schicksale gestoßen, die sich just in jenen Tagen, als sein Bruder verschwand, auf tragische Weise miteinander verknüpften. Was er den überlebenden Verwandten und Freunden Matthildurs schließlich zu berichten hat, ist die Geschichte einer großen Liebe, die die junge, unglückliche Frau mit einem anderen verband und in den Tod trieb. Es ist die Geschichte eines Verbrechens, dass Jahre später eine unstatthafte Rache provozierte und den Rächer, der sich im Dienste der Gerechtigkeit wähnte, für den Rest seines Lebens zum gesellschaftlichen Außenseiter machte – eine Geschichte nicht unähnlich den Berichten jener Isländersagas, mit denen das kleine Land ganz im Norden Europas in die Weltgeschichte der Literatur eingegangen ist. Wo hört Gerechtigkeit auf und Unrecht beginnt? Es ist dies eigentlich die Frage, vor der Erlendur in seinem Beruf als Kriminalpolizist in Reykjavík tagtäglich gestanden hatte. Und zu seiner Professsion gehörte es auch, dass er schließlich und endlich geltendes Recht durchzusetzen, Verbrecher ihrer gerechten Strafe zu überantworten hatte. Was der hartnäckige Kommissar in seiner Heimat aufrührt, entzieht sich in seinem Verständnis allerdings dem Zusammenhang von Schuld und Sühne und damit auch einer späten Bestrafung, ist doch das Weiterleben für den, der letzten Endes übrigblieb, Strafe genug. Mehr oder weniger zufällig stößt Erlendur während seiner nur durch sein eigenes Gerechtigkeitsempfinden motivierten Ermittlungen im Falle Matthildurs auch auf eine Spur des toten Bruders. Ob das Häuflein Knochen, dass, so unvollständig wie es ist, in eine kleine Schachtel passt, tatsächlich darstellt, was von seinem Bruder auf der Welt blieb – diese Frage kann nur sein Innerstes mit "Ja" beantworten. Indem es das aber tut, zieht es gleichsam einen Schlussstrich unter die Existenz des Ex-Kommissars. Am Ende sieht man ihn in die Berge hinaufsteigen, in deren Unendlichkeit Bergur einst verschwand. Dann fällt der Vorhang. Dietmar Jacobsen © TourLiteratur
/ Autor Lesen Sie auch Dietmar Jacobsens Besprechung von Arnaldur Indriðasons "Abgründe" Buchcover: © Bastei Lübbe, Köln |
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