Der
erhobene Zeigefinger
John Irvings neuer Roman "Die vierte Hand"
John Irving:
Die vierte Hand. Roman.
Aus dem Amerikanischen von Nikolaus Stingl.
Zürich: Diogenes Verlag 2002
ISBN 3-257-06303-2. 438 Seiten
438 Seiten. EURO 22,90
Ganz der
alte und doch - verändert
Mit leuchtenden Augen stolziert er in die nächste Buchhandlung und
verlangt "den neuen Irving" - der eingefleischte Fan, der "seinem"
Autor begegnen will, wohlwissend oder zumindest hoffend, dass ihn ein
gänzlich neues Lesevergn�gen erwarten wird. Er wird nicht entt�uscht
werden, als ge�bter Irving-Leser vielmehr feststellen, dass der Schriftsteller
nach "Witwe f�r ein Jahr" wieder ganz der alte - und doch ver�ndert
scheint. Denn dem nach eigenem Bekunden eher "schwerm�tigen Roman"
ist nun eine Erz�hlung gefolgt, die trotz aller Tragik einzelner Episoden
von einer zunehmend gelassenen, gar heiteren Grundstimmung gepr�gt ist.
Irving sagte selbst, er habe wieder zu der Stimme von Garp zur�ckkehren
wollen (ZEIT, 24.1.02), und tats�chlich meint der Leser ihn zu h�ren oder
zu sehen. Dr. Zajac beispielsweise, der dem Fernsehjournalisten Patrick
Wallingford zun�chst zu seiner dritten Hand verhilft, betreibt einen �hnlich
eigent�mlichen Sport wie sein Vorg�nger: Garp lief doch aus Angst um seine
Kinder und Wut �ber die r�cksichtslosen Autofahrer diesen wie ein Verr�ckter
quer durch sein Wohngebiet hinterher, um sie zu stellen und zu beschimpfen.
Zajac kann Hundehaufen nicht leiden und entfernt diese daher aus seinem
Blickfeld mit Hilfe eines Lacrosseschl�gers, der die Haufen auch auf ausgew�hlte
Ziele - Ruderer beispielsweise, Menschen also, die einer k�rperlichen
Bet�tigung ohne tieferen Sinn nachgehen - bef�rdert. Dieser Sport erf�hrt
eine Steigerung bzw. Beschleunigung, als Zajac ungewollt Herrchen eines
Hundes wird, der seinerseits ganz scharf auf Hundehaufen ist ...
Abschied
von der Gewissenlosigkeit
Doch der Reihe nach: Patrick Wallingford ist ein Yuppie, wie er eben nur
im Buche stehen kann: gut aussehend, erfolgreich sowohl bei Frauen als
auch bei seiner Arbeit als Fernsehjournalist und Moderator und bei all
dem ohne wirkliches Gewissen. Bis ihm w�hrend einer Reportage in einem
indischen Zirkus, wo - wie der Leser seit "Zirkuskind" wei�
- allerlei unvorhergesehene Dinge passieren k�nnen, ein hungriger L�we
die Hand abbei�t und vor laufenden Kameras verschlingt. Der Mann, der
bisher eine sensationshungrige Meute mit Katastrophen f�tterte, ist nun
selbst eine solche Katastrophe, die das Fernsehen so lange wiederk�ut,
bis die Zuschauer in Wallingford nur noch den "L�wenmann" sehen.
Nur ein schwachk�pfiger aber gutm�tiger Portier macht eine Ausnahme: Er
verwechselt Wallingford aufgrund einer entfernten �hnlichkeit hartn�ckig
mit einem bekannten Baseballspieler, auch wenn ersterer vor ihm steht
und zweiterer live im Fernsehen zu sehen ist. Als Wallingford seine "Schlaghand"
verliert, zeigt der Portier, der im �brigen seinen eigenen Vornamen -
"Vlad oder Vlade oder Lewis" - zu verwechseln scheint, daher gro�es
Mitgef�hl. Vlad oder Vlade oder Lewis ist dabei nicht blo� ein schillerndes
Accessoir in Irvings Roman. Er ist vielmehr ein Beispiel jener Fernsehkonsumenten,
die zwischen Realit�t und Fiktion nicht mehr zu unterschieden verm�gen,
und damit Bestandteil von Irvings Medienkritik, die in Wallingfords L�uterung
Gestalt annimmt. Denn die fragw�rdige Berichterstattung des "Katastrophensenders",
f�r den er arbeitet, und die Skrupellosigkeit seiner Arbeitgeber lassen
ihn, als die journalistische Ausschlachtung des Flugzeugabsturzes von
John F. Kennedy Jr. ihren H�hepunkt erreicht, sich von seiner bisherigen,
gewissenlosen Weltanschauung verabschieden.
Die vierte
Hand - ein Entwicklungsroman
Der Leser sieht dabei mit Erstaunen, aber durchaus nicht mit Widerwillen,
einen Irving mit mahnend erhobenem Zeigefinger und fragt sich: Kommt er
in die Jahre, die Sorglosigkeit nicht mehr zulassen? Insofern ist "Die
vierte Hand" tats�chlich ein Entwicklungsroman, in dem nicht nur
Wallingford, sondern auch Irving offenbar seine theatralische, nein, mediale
Sendung erf�hrt. Wenn dieses zumindest in dieser Gewichtung ein neuer
Aspekt in Irvings Werk zu sein scheint, so bleibt doch sonst alles beim
alten. Hinter dem erhobenen Zeigefinger erkennt der Leser den vertrauten
Irving, der mit dem Schalk im Nacken die Gratwanderung zwischen Sarkasmus
und Philanthropie vollf�hrt. Vertraut sind auch viele kleine Motive, so
als praktiziere der Autor eine Form von �criture automatique, indem er
Figuren, Konstellationen und Episoden in einen Sack tut, kr�ftig sch�ttelt
und zu einem neuen Roman auf dem Papier ausbreitet. Beispielsweise die
Zeugung des kleinen Otto Clausen, der nicht unwesentlich an Wallingfords
Ver�nderung beteiligt ist: Sie ist quasi die Bedingung, unter der die
Witwe Clausen sich bereit erkl�rt, die Wallingford noch zu Lebzeiten ihres
Gatten versprochene Hand desselben nun tats�chlich f�r die Transplantation
freizugeben. Die Bestimmtheit, mit der sie, die Wallingford schlie�lich
auch zu der vierten Hand verhilft, kurz nach dem Tode ihres Mannes Wallingford
dazu zwingt, ihr den lang ersehnten Nachwuchs zu erm�glichen, erinnert
sehr an eine gewisse Krankenschwester, die ihren Sohn dann Garp nannte.
Und dies sind keine Redundanzen, es sind Ehrbezeugungen des Autors an
seine Figuren, die in der Erz�hlung gl�nzen wie ein blinkendes L�cheln.
Der Leser l�chelt auch.
Friderike
Beyer
© TourLiteratur
/ Autorin
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Foto: Jane Sobel
© Foto und Buchcover: Diogenes Verlag, Zürich
Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Diogenes
Verlags
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