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Rezensionen > Moor, Margriet de: Sturmflut

Seest�ck mit Albert Einstein, Hauke Haien und zwei Schwestern
"Sturmflut" von Margriet de Moor

Margriet de Moor: Sturmflut. Roman.
Aus dem Niederl�ndischen von Helga van Beuningen.
München: Carl Hanser Verlag 2006.
ISBN 3-446-20713-9
352 Seiten. EURO 21,50

Singularit�ten gibt es: sowohl in der Geschichte, als auch in der Meteorologie und der Literatur. Je nach Fakult�t werden sie anders begriffen; dem Wort ist jedoch zu entnehmen, dass es sich um etwas handeln muss, das sich wegen seiner Einzigartigkeit gegen Vergleiche str�ubt. Insofern ist es nicht auszuschlie�en, dass es sich bei diesem Buch um eine Singularit�t handelt.

Dabei kommt der Roman zun�chst recht trivial daher: In Amsterdam verabschieden sich zwei Schwestern; Lidy, junge Mutter eines zweij�hrigen M�dchens, wird anstelle ihrer j�ngeren Schwester Armanda zu deren Patenkind auf die Insel Schouwen-Duiveland fahren, und sowohl der Titel - der niederl�ndische Originaltitel "De verdronkene" noch mehr als der deutsche - als auch der Beginn der Erz�hlung lassen keinen Zweifel dar�ber, welches Schicksal Lidy dort erwartet, wo eigentlich die Schwester sein sollte. Das verspricht viel, aber freilich konstruierte, absehbare und tr�nenreiche Dramatik.

Doch schnell wird deutlich, dass es nicht um das naive und zitternde Mitf�hlen einer schrecklichen Geschichte geht, denn de Moor entzieht dieser affektiven Lesart den Boden, wenn sie seltsam distanziert und ihre Ahnungslosigkeit kritisierend Menschen erw�hnt, die tief schlafend in ihren Betten [...] zu ihrer gro�en �berraschung ertrinken. Es geht auch nicht um eine rein moralische Lesart, die im Laufe der Erz�hlung die Frage nach Schuld und Kontingenz nahe legt: Wenn Armanda einfach nur mit Lidys Mann eine Fete besucht, w�hrend Lidy sich durch den Sturm k�mpft, oder wenn sie sp�ter den Platz ihrer verschollenen Schwester einnimmt, indem sie diesen Mann heiratet und ihre Nichte als ihre Tochter gro�zieht. Oder wenn im Leser der unerh�rte Verdacht keimt, Armanda sei es im Grunde recht, dass die Schwester nicht wiederkommt, da sie sie immer schon um ihr Leben beneidet hat.

De Moor geht noch weiter: Auf ebenso einfache wie geschickte Weise verdeutlicht sie den individuellen Wert des Lebens, der nicht durch vermeintlich objektive Kriterien wie Erlebtes, Durchlittenes, Vollbrachtes und schon gar nicht durch die Dauer eines Lebens zu definieren ist. Zu diesem Zweck verschiedene Schicksale parallel zu erz�hlen, ist eine g�ngige Methode. Allerdings erlebt der Leser den Weg der Figuren im Allgemeinen von Anfang bis Ende simultan: Stirbt die eine fr�h, kann sie nicht mehr als aktive Figur, sondern nur noch mittelbar, durch die Verarbeitung der anderen Figuren, an der Erz�hlung teilnehmen. Das gebietet das naturwissenschaftlich gepr�gte Denken und seine Vorstellung von einer absoluten Zeit, es sei denn, es handelt sich um Fantasy. Das ist bei "Sturmflut" nicht der Fall: Der Roman schildert fiktive, aber �beraus realistische Lebensl�ufe in einer historischen Katastrophe, die Anfang 1953 allein in den Niederlanden mehr als 1800 Menschenleben kostete. Dennoch wird die Simultanit�t schlicht aufgel�st.

Denn in Amsterdam h�rt man am 1. Februar bereits die furchtbaren Nachrichten, und die Familie beginnt, sich Sorgen zu machen, w�hrend Lidy selbst am Nachmittag des 31. Januar erst auf der Insel ankommt und mit Verwandten und Bekannten des Patenkindes feiert. Wenige Stunden sp�ter geht sie trotz tosender Zimmerdecke nichts ahnend in ihr Bett, w�hrend Armanda, die durch eine Laune verschonte Schwester, Tage sp�ter Bilder der Katastrophe in einer Wochenschau sieht und Lidys Mann die eigenh�ndige Suche nach seiner Frau bereits aufgegeben hat. Lidy erkl�rt sich in der Nacht vom 31. Januar auf den 1. Februar, nachdem sie schon geschlafen hat, bereit, den Deichvogt und einen Bauern mit ihrem Auto im w�tenden Sturm auf der Insel umherzufahren, damit sie an Deichen und H�fen nach dem Rechten sehen k�nnen. Derweil ist es in Amsterdam schon April und Lidys Mann wird immer noch zu Leichenfunden gerufen, die nur mehr an ihren Kleidungs- oder Schmuckst�cken zu identifizieren sind.

So erz�hlt de Moor parallel die Lebensl�ufe der Schwestern, deren Dramatik so unterschiedlich ist: Armandas Weg durch Jahrzehnte, der immer wieder von Lidys Verschwinden gezeichnet wird. Und Lidys Weg durch Stunden, den sie mit den einheimischen Bauern und einem Deichvogt, dessen moralisches Dilemma den Leser kurz an Theodor Storms verwandte Figur erinnern mag, geht und den de Moor schonungslos schildert mit Episoden, die man beispielsweise aus der filmischen Rekonstruktion der Hamburger Sturmflut 1962 kennt. Die vernichtende Trostlosigkeit dieser letzten Stunden wird durch die Diachronie der Erz�hlung noch gesteigert: Wie kann Lidys Mann die Suche nach ihr aufgeben, wie kann Lidys Schwester ihren Platz einnehmen, wie kann Lidys Familie sie f�r tot erkl�ren lassen, wo Lidy doch noch immer ums �berleben k�mpft? Aber auch die qu�lende Ungewissheit der Familie �ber Lidys tats�chliches Schicksal wird potenziert: Nur der Leser kann anhand eines kleinen Details schlie�lich mit Sicherheit sagen, dass die Familie wirklich Lidy beerdigt.

Fern aller Gef�hlsduselei best�tigt de Moor mit dieser Diachronie zumindest einen Teil von Albert Einsteins zutiefst philosophischer Relativit�tstheorie: "Zeitangaben sind [...] keine universell g�ltigen Ordnungsstrukturen" (https://de.wikipedia.org/wiki/Relativit�tstheorie). Die Zeit ist nicht absolut: Das zwangsl�ufig intensive Erleben und Erleiden Lidys letzter Stunden machen sie genau so lang wie die Jahrzehnte, die Armanda noch erlebt. M�chte man nicht die Physik bem�hen, so ist doch der Hinweis auf Margriet de Moors musikalische Vergangenheit einmal mehr unvermeidlich, die ihre Erz�hlungen zu Kompositionen geraten l�sst: Der Roman, dem wie sein Vorg�nger "Kreutzersonate" "alle Impulse des Zeitlichen, des Luftanhaltens, Atemholens, des Tempos und der Verlangsamung innewohnen" (Verena Auffermann �ber de Moors letzten Roman, www.fruehjahrsbuchwoche.de/2004/portra04/04portra16.html), umfasst wie die Sonate vier Teile, die zwei Themen aufstellen, durchf�hren und variieren und dabei mit Tonarten spielen, um immer wieder zu einer dramatischen Haupttonart zur�ckzukehren. De Moors f�nfter Teil, das Responsorium, ist die vers�hnliche, vielleicht ungewohnt spielerische Coda.

Doch wie gesagt: Singularit�ten m�gen keine Vergleiche, sie stehen f�r sich. "Sturmflut" ist ein einzigartiges Leseerlebnis, das auf die ein oder andere Art um den Schlaf bringt.

Friderike Beyer

© TourLiteratur / Autorin
Alle Rechte vorbehalten

Buchcover: © Carl Hanser Verlag, München

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