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Rezensionen > Rusch, Claudia: Meine freie deutsche Jugend

Rusch-Hour
oder Noch einmal �ber wahres Leben im Falschen

Claudia Rusch: Meine freie deutsche Jugend. Mit einem Text von Wolfgang Hilbig.
Frankfurt/Main: S. Fischer Verlag 2003.
ISBN 3-10-066058-7.
157 Seiten.
EURO 14,90


Hier ist von einem Deb�t zu berichten. Einem schmalen Band von rund einhundertf�nfzig Seiten, der siebenundzwanzig Geschichten sowie einen nachwortartigen Text von Wolfgang Hilbig enth�lt, dem der Verlag - wohl weil er damit rechnet, dass nicht jeder Lust hat, ihn zu lesen - noch ein griffiges Briefschnippselchen des Altmeisters an die Jungautorin (Jahrgang 1971) beigegeben hat, so klein, dass es auf einer Bauchbinde Platz fand. Ich hasse Bauchbinden. Aber egal.

Das Buch stellt eine Art Autobiographie in manchmal hastig, h�ufiger aber sorgf�ltig hinskizzierten Momentaufnahmen dar. Wir schauen mit der kleinen Claudia wehm�tig hinter jenen Ostseef�hren her, die jenseits des Horizonts in Richtung Schweden verschwinden - ach ja, fast h�tte ich vergessen, es eingangs zu erw�hnen: die Heldin tr�gt Ruschs Z�ge und ist nat�rlich ein DDR-Kind mit allen Nach- und Vorteilen eines solchen -, unterhalten mit dem entschieden fr�hreifen G�r einen ganzen Eisenbahnwaggon mit Honecker-Witzen und leiden mit ihr, wenn sie zwischen ihren beiden V�tern - dem einen sieht sie, dem andern ist sie �hnlich - an der Jugendweihezeremonie teilnimmt, als "Einzige im Saal, die den politischen Aspekt der Jugendweihe so schwer nahm" (S. 50), dass sie bei ihrem Schwur auf den Arbeiter-und-Bauern-Staat hinterr�cks die Finger kreuzt. Wir werden mit der vorwitzigen Person gro�, schummeln uns dank einer sympathischen Schuldirektorin, die die Tricks zum �berleben im Mangelland kennt, gemeinsam aus der POS (Polytechnische Oberschule) in die EOS (Erweiterte Oberschule, sprich: Gymnasium), stehen kleinere Bataillen mit der ber�chtigten Stasi bravour�s durch und landen schlie�lich nach der Mauer�ffnung im n�chsten System, das auch seine Macken hat.

So weit - so gut. Wer �stlich der Elbe seine Sozialisation erlebte, wird manches wiedererkennen. Wer dem Westen Deutschlands entstammt, wird sich an Jana Hensels "Zonenkinder" erinnert f�hlen. Deren Thema ist das �berleben in einem individuellen Freiheiten gegen�ber wenig aufgeschlossenen System. In einem Staat, der nicht nur h�ufig mit der Keule drohte, sondern sie gelegentlich auch hervorholte, um auf jene einzuschlagen, die allzu sehnsuchtsvoll nach drau�en blickten und es bei purem Sehnen schlie�lich nicht belassen wollten. Dass unter solchen Voraussetzungen Normalit�t m�glich war, glaubt man ja heutigentags nur noch schwer.

Von Hensel, die die Spiegel-Bestsellerliste unter die Sachbuchautoren verwiesen hat, unterscheidet Rusch, dass sie besser - vor allem pointierter - schreibt und ihren famili�ren background im DDR-Widerstand hat. Letzteres macht die Biographiebruchst�cke der 1971 Geborenen politisch um etliches korrekter und damit auch f�r diejenigen goutierbar, die nach wie vor der Meinung sind, man habe in jenem vergangenen anderen Deutschland nur mit entschiedener Selbstverleugnung - Augen, Ohren und Mund in der Regel fest verschlossen - leben k�nnen. Andererseits kommt durch die Akzentuierung des Im-Kern-Dagegenseins auch etwas Altkluges in die Zeilen, das mir nicht gef�llt, weil es das Kind, welches hier erinnert wird, ins Licht des Besonderen stellt. Der kleinen Erwachsenen, die ihre t�glichen Kompromisse von Anfang an als solche durchschaut und fr�h den Entschluss fasst, sich wegheiraten zu lassen aus der sozialistischen �dnis, steht man mit zunehmend gespalteneren Gef�hlen gegen�ber, weil sie einem den Eindruck vermittelt, das eigene Aufwachsen zu sehr zu verabsolutieren zum exemplarischen Werden, dem dann nat�rlich nur die Wenigsten zu gen�gen wissen. Diese Haltung kulminiert in Szenen wie jener, wo das Volk nach der Mauer�ffnung in die ALDI-Filialen str�mt, w�hrend es die Heldin zu stillem Gedenken an die Vergangenheit und leiser Verabschiedung der lange gehegten reformkommunistischen Ideen zieht.

Insgesamt freilich �berwiegt beim Lesen der Eindruck des Authentischen, Ungezwungenen. In wenig gl�cklichen Zeiten und unter teils vertrackten Umst�nden w�chst jemand gl�cklich auf und behauptet sich und die Grenzen seiner kleinen Welt gegen nahezu alle �u�eren Zumutungen. Auch auf Ruschs Erinnerungsprosa will es deshalb nicht so recht passen, Adornos Diktum, wonach es kein wahres Leben im Falschen gibt. Was dieses Kind zu seiner Zeit erlebt ist Wahrheit abseits des Falschen, eines "Gro�en und Ganzen", das verblasst angesichts der Probleme seiner kleinen Welt und das, wenn es sich denn einmal einmischt in das lustvoll zelebrierte Individuelle, zwar f�r tragische Momente zu sorgen vermag, letzten Endes aber mal trotzig, mal listig �berwunden wird.

Immer reibt sich Privates an Gesellschaftlichem. Und oft ist das der Kern von gro�er Literatur. Dies Claudia Ruschs kleiner Geschichtensammlung zu attestieren - soweit wollen wir nicht gehen. Zu schlicht kommt das daher. Zu schmucklos gradlinig, wenn auch fein ziseliert. Was der Autorin aber mit Leichtigkeit gelingt, ist die Vergegenw�rtigung des Gewesenen als Auch-Normalit�t. Einer Normalit�t, die immer bedroht war, aber ihre Refugien des Entzugs besa� und verteidigte.

Gespannt darf man aber auch sein, was die Autorin Rusch als n�chstes vorlegen wird. Mit "Meine freie deutsche Jugend" hat sie sich von ihrer Vergangenheit frei geschrieben. Einer Vergangenheit, die nur zu einem Teil in den letzten Jahren der DDR spielte, zum anderen schon aus Reibungsversuchen an dem, was danach kam, besteht. Dabei sprengt das Neue f�r Claudia Rusch bereits bei seiner Ankunft die Grenzen des Nationalen und dr�ngt hinaus ins Europ�ische, Kosmopolitische. Deutschland h�lt sie nicht. Und so d�rfte auch ihr literarisches Interesse weiter zielen als in das Land, dem sie am Ende ihres Erz�hldeb�ts so gl�cklich entkommt.

Dietmar Jacobsen

© TourLiteratur / Autor
Alle Rechte vorbehalten

Homepage des Autors Dietmar Jacobsen:
www.text-und-web.de

Buchcover: © S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main

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