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Kindheitsgerüche
Kathrin Schmidt:
Koenigs Kinder. Roman. Aber wahrscheinlich fangen Geschichten - wenn es richtige Geschichten sind und keine einer nachtr�glich eingef�hrten Ordnung unterworfene - immer so an. Von den R�ndern her entwickeln sie sich auf ein Zentrum zu, dessen Beschaffenheit sich erst nach und nach enth�llt. Am Nullpunkt hat nichts etwas miteinander zu tun, am Ende alles. Erst nur F�den, dann Gewebe. Und der einzelne ahnt nichts von seiner Funktion. �dipus geht seinem Schicksal bewusst aus dem Weg. Und ger�t mitten hinein. Kathrin Schmidt reichen drei Personen als erz�hlerische Ausgangspunkte. Da ist zum einen Marl, ein Anwalt, der mit seinem einstigen Klienten Frieling in einer homosexuellen Partnerschaft lebt und sich nach einem Kind sehnt. Da h�ren wir zweitens von der kasachischen Aussiedlerin Ida Bergner, die sich mit ihrer Enkelin Walja und deren Mann am Rande Berlins eine neue Existenz aufbauen will. Und da ist schlie�lich noch Lioba Zeplin, eine geschiedene Lehrerin, der von ihrer Putzfrau Zettel in die Wohnung geschmuggelt werden, auf denen sie erstaunt die eigene Kindheit beschrieben findet. Kein aufregendes Personal auf den ersten Blick. Aber auch keine durchschnittlichen Menschen mit durchschnittlichen Sorgen und W�nschen in einer durchschnittlichen Umgebung. Der Osten Berlins ist ihr Ort. Die unmittelbare Gegenwart ihre Zeit. Doch da ist von der ersten Seite an auch etwas, das in allen drei Protagonisten arbeitet, ohne dass diese es sich sofort eingest�nden, etwas, das sie umtreibt und zu seltsamen Aktivit�ten anstachelt, etwas, das im Verborgenen wirkt und sie zueinander zieht, mitten hinein in einen gemeinsamen Raum, der in der freudlosen Realit�t, in der sie sich bewegen, keine Entsprechung hat. Eine Sehnsucht. Eine Ahnung. Ein Erl�sungswille. Etwas, dem der Roman ein Zeitungsschicksal, gebunden an einen Namen - kursiv gesetzt in ikonographischer Funktionalit�t -, zuordnet: die kleine Janina. Marl, dem Anwalt, begegnet sie in ihrer urspr�nglichen Gestalt, als ein Kind, das an einer n�chtlichen Tankstelleneinfahrt steht und weint. Die Presse hat seine Entf�hrung gemeldet, nun ist das M�dchen wieder aufgetaucht, mit durchschnittener und - wie in einem Akt zu sp�ter Reue - notd�rftig zusammengen�hter Kehle. Und ohne dass es ein Wort sagen m�sste, f�hlt sich Marl von ihm "engagiert", ab sofort in seinen Diensten stehend, zum erstenmal vor einer Aufgabe, welche ihn als Mensch fordert, nicht als automatisch sein Handwerk verrichtenden Juristen. Kein Wunder, dass sein Gef�hrte Frieling den Einbruch dieses Kindes in die partnerschaftliche Welt als Bedrohung der Beziehung empfindet und insgeheim gegen Marls Adoptionswunsch arbeitet. F�r Lioba Zeplin werden die Zettel mit den seltsamen Adoleszenzgeschichten, die, nachdem sie eine Putzfrau f�r ihre Wohnung eingestellt hat, pl�zlich �berall auftauchen, zu Nachrichten aus der Welt der kleinen Janina. Erst langsam erkennt sie, dass sie selbst es ist, die in diesen Vergangenheitssplittern in einer Figur namens "Ichalstochter" vergegenw�rtigt wird. Um herauszufinden, wer ihr zu welchem Zweck jene Episoden aus bedr�ckenden Zeiten zuspielt, braucht es freilich den ganzen Roman. Und auch in der Umgebung von Ida Bergner taucht - bald nachdem wir sie kennengelernt haben - eine Inkarnation der kleinen Janina auf. Es ist eine Puppe, die der Mann ihrer Enkelin Walja von einer Reise in ihre alte Heimat mitgebracht hat. Gedacht war sie als Geschenk f�r die neugeborene Tochter seines Bruders. Doch die ist blind und mehrfach behindert zur Welt gekommen, so dass sich der Gast f�r sein Pr�sent sch�mte, es versteckt hielt und schlie�lich wieder mit zur�ck nach Berlin nahm. Nun ist das Spielzeug in den Besitz seiner Frau �bergegangen, wird liebevoll gepflegt und zur Kompensation eines Heimwehs gebraucht, �ber dessen Existenz auch die scheinbar gelungene Assimilation an die neuen Lebensumst�nde nicht hinwegt�uschen kann. Die kleine Janina wird aufgrund dieser Vielgestaltigkeit, der Tatsache, dass sie f�r jede erwachsene Figur des Romans etwas anderes verk�rpert, zum geheimen Zentrum des Buches, zum Fluchtpunkt aller Lebenslinien, die Kathrin Schmidt bis in die Vergangenheit zur�ckverfolgt. Alle Bedr�ngnisse, denen sich die einzelnen Personen in der Gegenwart ausgesetzt sehen, alle Schmerzen, die sie erleiden, jedes Ungl�ck, das ihnen widerf�hrt, ebenso wie jedes fl�chtige Gl�ck sind nur dann zu begreifen, wenn man sich dem stellt, was einmal war, der eigenen Geschichte, in die auch die Gesellschaft, in der man aufgewachsen ist, sich m�chtig eingeschrieben hat. In diesem Sinne betreibt der Roman, wie es an einer Stelle treffend hei�t, tats�chlich die "Installation von Kindheitsger�chen", schweift aus in die "bananenfreie Zeit", die hier in der Pest hei�t, verspricht letztendlich Erl�sung dem, der sich mit seiner abgelegten Vergangenheit heute in �bereinkunft zu bringen vermag. Die Sprache, mit der das erz�hlt wird, hat Geruch und Geschmack. Sie ist ganz dicht an den K�rpern und verleiht ihnen damit gro�e Plastizit�t. Nichts ist ihr zu intim, nichts des Verschweigens wert. Sie kann genauso blumig sein wie spr�de, elegant das Triste poetisieren und Unaussprechbares metaphorisch adeln. Allein nach einem ihr vergleichbaren Ton zu suchen, d�rfte momentan ziemlich aussichtslos in der deutschsprachigen Literatur sein. Mit ihrer "Gunnar-Lennefsen-Expedition" hat sich Kathrin Schmidt vor gut vier Jahren ganz nach vorn geschrieben. Dann wurde es relativ still um die Autorin. Es erschienen ein sch�ner Lyrikband ("GO-IN der Belladonnen", 2000) und - an verstreuten Orten- kleinere Preziosen. Wir glaubten schon, Anlass zur Unruhe zu haben, aber das brauchten wir nicht, wie man sieht. Denn "Koenigs Kinder" h�lt dem Vergleich mit seinem Vorg�nger mehr als stand. Nat�rlich geht es in diesem Roman nicht ganz so verspielt und zauberisch zu. Bestimmt ist in ihm eine v�llig andere erz�hlerische �konomie am Werk. Aber seinen Grund hat dies im Gegenstand des Erz�hlens, und wo sollte es ihn auch anders haben. Schmidt wei� ganz genau, was angemessen ist. Ihr Fingerspitzengef�hl f�r �sthetische Entscheidungen ist bemerkenswert. Weil sie diesmal mehr in Innen- denn in Au�enwelten leuchtet, verknappt sie die R�ume, die sie ihren Figuren g�nnt, ohne denen damit Atemluft zu nehmen. Und weil der neuen Gegenwart so ganz und gar das Luftig-Utopische abgeht, ein kr�merischer Pragmatismus Hand in Hand geht mit der Beschw�rung neuen Mittelma�es, verweigert der Text auch jegliches enthusiasmierte Aufsteigen. Gab es in der "Gunnar-Lennefsen-Expedition" noch eine Himmelfahrt zu bewundern, so wird der Leser diesmal lediglich Zeuge eines aus pivater und gesellschaftlicher Knechtung befreienden Sprunges kopf�ber von der Br�stung eines Neubaubalkons in die Tiefe. Doch auch diesem Akt der Selbsterl�sung versteht die Autorin noch Sch�nheit abzugewinnen: "Sie l�chelte, weil nun die Pflanzen verkehrtherum aus den Blumenk�sten wuchsen und jeden Moment herausfallen mu�ten. Dass sie sich irrte, merkte sie zwar, �berlegte aber doch, die Geranien zu einem gestreckten Salto aus den K�sten zu �berreden, um ihr zu folgen. Sie wom�glich zu �berholen. Dann k�nnte sie inmitten der Blumen liegen, obenauf." (S.336) Aber Trost und Zuversicht vermag auch das nicht mehr zu vermitteln: "Es f�hlte sich gut an, auf nichts mehr hoffen zu m�ssen." (S 337) Allein mit dieser Maxime entl�sst Kathrin Schmidt ihre Leser nicht. Das letzte Wort im Roman hat dessen heimliche Hauptgestalt: die Liebe, die Hur. Sie ist es, die alle Dinge in Gang setzt und am Ende auch bilanziert. F�r Gerechtigkeit im irdischen Sinne vermag sie dabei nicht zu garantieren. Aber sie ist um Ausgleich bem�ht. Die Rechnung muss stimmen, bevor sie ihren Strich darunter macht. Und irgendwie bekommt sie das auch hin in dieser wunderbaren erz�hlerischen Welt, die man nur ungern verl�sst. Dietmar Jacobsen © TourLiteratur
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des Autors Dietmar Jacobsen: Buchcover: © Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln |