Erkennen
- Urteilen - Handeln
Anfänge der Theaterpädagogik in Bertolt Brechts Lehrstück
"Die Maßnahme"
Von
Benedikt Descourvières
Die Wahrnehmung
des Zuschauers zu verändern, ihn mit dem zu konfrontieren, was er bisher
nicht gesehen und erkannt hat und ihn permanent mit neuen Perspektiven
auf einen bestimmten Gegenstand zu aktiver Denkarbeit zu motivieren, war
das große Ziel der Brechtschen Theaterpraxis. Sein Ziel, radikale Erkenntnisprozesse
durch das Theater zu initiieren, führte ihn zu seinem Konzept des Epischen
Theaters, das er dem traditionellen Handlungs- und Figurendrama, das
auf der Identifikation des Publikums mit den Figuren beruht, entgegensetzte.
In scharfer Abgrenzung zu den Dramenkonzeptionen Aristoteles', Lessings
und Schillers bricht Brecht die organische Ganzheit des klassischen Dramas
rigoros auf, indem die dramatische Spielsituationen und Figuren systematisch
verfremdet und desillusioniert werden. Die Schauspieler wechseln ihre
Rollen, treten aus ihnen heraus und zeigen auf sie: Sie übernehmen nicht
die Perspektive einer dramaturgisch definierten Figur, sondern diejenige
eines kritischen Beobachters, der die jeweiligen Handlungen und Figuren
vom progressivst möglichen historischen Standpunkt aus kommentiert.
Das Publikum
soll sich nicht durch Furcht wie bei Aristoteles oder Mitleid
wie bei Lessing mit dem Bühnengeschehen identifizieren, sondern durch
die Zeige- und Verfremdungstechniken Wissensbegierde und Hilfsbereitschaft
entwickeln. Das Publikum sei nicht über illusionistische Affekte aus seiner
empirischen Welt in die der Kunst zu entführen, zu verzaubern, sondern
durch das Epische Theater in seine reale Welt einzuführen. Es soll im
und durch das Theater zu eigenständigen Analysen und Urteilen provoziert
werden, um die Bedingungen seiner Existenz kennenlernen, beurteilen und
entsprechende Konsequenzen für konkretes Handeln ziehen zu können. Nicht
passive Rezeption und ästhetischen Genuss, sondern praktische und anschauliche
Erkenntnisproduktion verband Brecht mit der Theaterarbeit des Publikums.
So forderte er, die gesellschaftliche Verhältnisse in ihren strukturellen
Zusammenhängen realistisch darzustellen, statt sie nur minutiös zu beschreiben,
wie er es dem Naturalismus, dem er die analytische Kraft absprach, vorwarf.
Äußerst konsequent
praktizierte Brecht seine epische Dramatik der kritisch-analytischen Distanzierung
in seinen Lehrstücken, die der Rezeption bis heute allerdings meist als
eindimensionale, plumpe, marxistische Propaganda- und Thesenstücke gelten,
die bei weitem nicht die poetische Reife späterer Stücke erreichten. Die
Lehrstücke behandeln modellhaft zentrale Probleme progressiven politischen
Handelns. Beispiele sind die Frage nach der Gewaltanwendung, der Disziplin
oder aber dem Abwägen zwischen langfristigen und kurzfristigen Interessen.
Wurden
die Lehrstücke in der bürgerlichen Kritik als Parteiliteratur angefeindet,
so lösten sie auch in der marxistischen Rezeption heftige Debatten um
die richtige ideologische Position aus. Bis heute kommen die politischen,
ästhetischen und theaterpädagogischen Innovationen, die Brecht in seinen
Lehrstücken realisiert, zu kurz. Die Rezeption der Lehrstücke wird dadurch
erschwert, dass Brecht nie eine zusammenhängende, stringente Lehrstücktheorie
verfasste. Insofern kommt dem philologischen Bemühen Rainer Steinwegs
große Bedeutung zu, die vereinzelten, fragmentarisch archivierten theoretischen
Äußerungen Brechts zu einem Ansatz zusammengeführt zu haben. Alle hier
wiedergegebenen Äußerungen Brechts zum Lehrstück sind über Steinwegs richtungsweisende
Arbeiten zitiert.
Brecht entdeckte
1926 die Kapitalismuskritik von Marx und Engels als geeignetes Instrumentarium,
um komplexe ökonomische Prozesse zu analysieren. Mit ihr entwickelte er
sich vom kritischen Beschreiben der bürgerlichen Gesellschaft - "Mann
ist Mann" (1924-26), "Dickicht der Städte" (1922), "Trommeln
der Nacht" (1919) - zu einem produktiven Entwickler neuer Denk- und
Handlungsformen im Theater. In seinem Lehrstückkonzept sah er ein probates
kommunikatives Gegenmodell zur Betäubung und wachsenden Desinformation
durch die Massenmedien: Das Publikum sollte nicht mit fertigen Entwürfen
bedient und ästhetisch genussvoll unterhalten werden, sondern aktiv Theater
gestalten, sich durch das Theater Perspektiven, Meinungen, Haltungen erarbeiten,
um eine Situation möglichst umfassend beurteilen zu können. Das Lehrstück
setzt ein Publikum voraus, das spielerisch eine Situation erkennt, sie
in möglichst vielen Varianten durchspielt und durch diese selbst geleistete
theatrale Veranschaulichung die folgerichtigen Schlüsse für das bestmögliche
politische und soziale Handeln in einer bestimmten Situation ziehen kann:
"Zwischen
der wahren Philosophie und der wahren Politik ist kein Unterschied.
Auf diese Erkenntnis folgt der Vorschlag des Denkenden, die jungen Leute
durch Theaterspielen zu erziehen."
Mit seiner
Überzeugung, durch Theaterspielen Lern- und Denkprozesse befördern zu
können, begründete Brecht zentrale Ansätze der modernen Theaterpädagogik,
die bis heute an Aktualität nichts verloren haben und insbesondere in
Rollenspielkonzepten fortgeführt werden, die ihren festen Platz ebenso
in Management- und interkulturellen Vorbereitungskursen wie auch in der
christlichen Katechese oder in verschiedenen therapeutischen Verfahren
haben.
Die Lehrstücke
verfolgen die Strategie, die Trennung zwischen Bühne und Publikum aufzuheben.
Sie sollen nicht für ein Publikum, sondern durch es gespielt werden und
kennen "nur mehr Spieler, die zugleich Studierende" sind, indem sie
die von Brecht literarisch verfassten Situationen erörtern, Ursachen und
Konsequenzen analysieren und die Ergebnisse ihrer Betrachtung spielerisch
umsetzen:
"Prinzipiell
ist für das Lehrstück kein Zuschauer nötig, jedoch kann er natürlich
verwertet werden. Es liegt dem Lehrstück die Erwartung zugrunde, daß
der Spielende durch die Durchführung bestimmter Handlungsweisen, Einnahme
bestimmter Haltungen Wiedergabe bestimmter Reden und so weiter gesellschaftlich
beeinflußt werden kann."
Für Walter
Benjamin geraten die Lehrstücke zu einer "Versuchsanordnung zur Erforschung
menschlichen Verhaltens". Im Spiel können sich die Spieler spezifischer
Haltungen und Perspektiven praktisch und konkret bewusst werden. Im Vordergrund
steht die Selbst-Belehrung der Spielenden, nicht das ästhetische Vergnügen:
"Das Lehrstück lehrt dadurch, daß es gespielt, nicht dadurch, daß
es gesehen wird."
Brechts
wohl umstrittendstes, 1930 uraufgeführtes Lehrstück, "Die Maßnahme",
in dem er die Problematik politischen Handelns unter extrem harten Bedingungen
- das Denken "vor den Gewehrläufen" (659) - bis zur radikalen Entscheidung
des notwendigen Selbstmordes eines politischen Mitstreiters zum Schutz
der Gruppe durchspielt, thematisiert gleich mehrere schwierige taktische
und ethische Fragen der politischen Auseinandersetzung angesichts erschreckender
gesellschaftlicher Unterdrückungsverhältnisse. Vier kommunistische Agitatoren
stehen vor einem Parteigericht, das durch den Chor repräsentiert wird.
Der Chor verlangt von den Vieren Aufklärung darüber, warum sie einen jungen
Genossen erschießen mussten. "Der junge Genosse", ein sympathischer,
engagierter, aber auch ungestümer Revolutionär, hält die Spannung zwischen
langfristigem politischem Kalkül und direktem Eingreifen nicht aus. Er
gibt sich angesichts der bitteren Armut und Ausbeutung immer wieder dem
spontanen Mitleid hin und gefährdet so die politische Agitation zur Aufklärung
und Befreiung der ausgebeuteten Menschen. Als er seine Genossen durch
eine weitere Unbedachtheit in Lebensgefahr bringt, erzielen sie und er
das Einverständnis darüber, dass er sich umbringen muss, um die anderen
zu schützen. Die Begründung und Rechtfertigung ihrer Entscheidung präsentieren
die Agitatoren im Rollenspiel, um zu zeigen, wie falsch und gefährlich
sich der jungen Genosse verhalten hat.
Die bürgerliche
Kritik diffamierte "Die Maßnahme" als "Vorwegnahme der Moskauer
Prozesse" (Ruth Fischer) und als "Denkspiel von entmenschter Logik"
(Hans E. Holthusen); auch marxistische Kritiker warfen dem Stück vor,
undialektisch, zu idealistisch, ja gar eine "Ver-Nichtsung des Individuellen
zugunsten eines abstrakten Kollektivs" (Ernst Schumacher) zu sein. Ungeachtet
der harschen Kritik, die die kunstvolle Konstruktion des Stückes weitgehend
ignoriert, lohnt "Die Maßnahme" eine seriöse Beschäftigung, die nicht
zuletzt das theaterpädagogische Potenzial dieser Theaterform würdigt.
"Die
Maßnahme" repräsentiert das Geschehen nicht illusionistisch, sondern spielt
es durch die vier Agitatoren und den Kontrollchor retrospektiv nach. Diese
doppelte Spielsituation verstärkt das Prinzip der permanenten Selbstkritik
und -vergewisserung: Was sprach für diese Maßnahme? Welche anderen Möglichkeiten
gab es? Wie wurde das Risiko eingeschätzt? Gleich zu Beginn konstituiert
der Kontrollchor die Lernspielsituation mit der folgenden Aufforderung
an die Agitatoren:
"Tretet
vor [...] Stellt dar, wie es geschah und warum, und ihre werdet unser
Urteil hören." (633)
Das Spiel
im Spiel beginnt, die Agitatoren spielen in den folgenden Szenen die verschiedenen
Situationen und Entscheidungen mit wechselnden Rollen nach - immer wieder
unterbrochen und kommentiert von Fragen und Liedern des Kontrollchores.
Durch
das eigene Spielen macht das Lehrstück die kritische und produktive Auseinandersetzung
der Darsteller mit den gesellschaftlichen Verhältnissen möglich: Die Schauspieler
und Schauspielerinnen befassen sich mit der bewussten Beobachtung und
Analyse der in einer spezifischen Situation möglichen Verhaltens- und
Denkweisen; in dieser Anstrengung liegt die Chance, an der Entwicklung
einer eigenen kritischen Haltung zu arbeiten. Wie
alle Lehrstücke Brechts zeichnet sich auch "Die Maßnahme" durch kurze
übersichtliche Sätze und Szenen aus, die sich leicht einprägen, aber auch
ergänzen und aktualisieren lassen. Die Szenen können so wie autonome Textmodule
einzeln analysiert und in ihrer Reihenfolge verändert werden. Diese Sparsamkeit
der Sprache, der Darstellungsmittel und der Regie- und Bühnenanweisungen
verfolgt zwei Ziele: Erstens eröffnet sie dem 'Lehr-Spiel' die Möglichkeit,
das Stück und seine inhaltlichen Voraussetzungen selbst kreativ zu entwickeln
und zu aktualisieren:
"Die
Form des Lehrstücks ist streng, jedoch nur, damit Teile eigener Erfindung
und aktueller Art desto leichter eingefügt werden können. In 'Horatier
und Kuratier' etwa kann vor jeder Schlacht ein freies Rededuell der
Feldherrn stattfinden, in der 'Maßnahme' können ganze Szenen frei eingefügt
werden und so weiter."
Zweitens
nimmt sie den Akteuren die Scheu davor, aktiv zu werden und sich als Laien
produktiv in das Bühnengeschehen einzubringen. Professionelle schauspielerische
Begabung, präzise Textkenntnis, Requisiten und Charakterdarstellungen
treten hinter dem heuristischen Ziel zurück, Erkenntnis durch aktives
Theaterspiel zu befördern:
"Ästhetische
Maßstäbe für die Gestaltung von Personen, die für die Schaustück gelten,
sind beim Lehrstück außer Funktion gesetzt. Besonders eigenzügige, einmalige
Charaktere fallen aus, es sei denn, die Einzügigkeit und Einmaligkeit
wäre das Lehrproblem. [...] Über den Wert eines Satzes oder einer Geste
oder einer Handlung entscheidet also nicht die Schönheit sondern: ob
der Staat Nutzen davon hat, wenn die Spielenden den Satz sprechen, die
Geste ausführen und sich in die Handlung begeben."
Das Lehrstück
wird zum Lernstück. Von entscheidender Bedeutung ist das Erspielen unterschiedlicher
Einstellungen und Interpretationen durch Akteure, die zugleich Leser,
Darsteller und Interpreten sind. Dabei sollen die Spieler ständig die
Rollen und damit die Perspektiven auf die Situation wechseln:
"Unter
dieser Bedingung wird jeder von ihnen sich den Übungen der Diskussion
unterziehen können und schließlich die Kenntnis - die praktische Kenntnis
- von dem bekommen, was Dialektik ist [... Der Perspektivenwechsel zielt
auf] Geschmeidigkeitsübungen, die für jene Art Geistes-Athleten bestimmt
sind, wie es gute Dialektiker sein müssen."
Die
von Brecht gezielt geforderte und dramaturgisch bewusst angelegte Polyperspektivität,
das ständige In-Frage-Stellen einer Position oder eines Urteils, das permanente
Suchen nach neuen, besseren Wegen führen den 'ewigen' Vorwurf, das Lehrstück
ziele auf das Einhämmern von Lehrsätzen und Patentrezepten, ad absurdum
und weisen das Lehrstück als eine exzellente pädagogische und politische
Übung aus, die immer wieder versucht, Verkanntes und Unbekanntes, das
möglich ist, aber nicht gesehen wird, zu manifestieren. Im Idealfall leistest
es das "In-Bewegung-Setzen des Unbewegten", wie es der französische
Philosoph Louis Althusser in seien Schriften zum Theater bezeichnete.
Mit der Suche nach neuen Perspektiven korrespondiert die Warnung vor übereilten
Urteilen aus der Entfernung, die die konkrete Lage vor Ort nicht berücksichtigen.
Die Agitatoren fordern:
"Wartet
ab!
Es ist leicht, das Richtige zu wissen
Fern vom Schuß
Wenn man Monate Zeit hat
Aber wir
Hatten fünf Minuten Zeit und
Dachten nach vor den Gewehrläufen." (659)
Ein gerechtes
und tragfähiges Urteil, das für alle nachvollziehbar ist und mit dem die
Beteiligten - auch der junge Genosse - ihr Einverständnis erklären
können, muss alle Faktoren politischen Handelns bedenken. Der Begriff
des Einverständnisses bedeutet bei Brecht nicht naive Bejahung oder Duldung
einer Entscheidung; er setzt eine Einsicht voraus, die auf der genauen
Analyse und Beurteilung des Gegenstandes basiert.
Die Praxis
bei der Arbeit mit verschiedenen Gruppen von Laienschauspielern hat bisher
gezeigt, dass diese 'andere' Form des Umgangs mit Theater tatsächlich
einer Geistesübung gleichkommt. Dies zeigt sich beispielsweise in der
szenischen Interpretation der Szenen 4 der "Maßnahme", in der die
vier Agitatoren zeigen, wie sich der junge Genosse beim Verteilen von
Flugblättern in einen Streit mit einem Polizisten verwickeln lässt und
durch seine emotionale Reaktion die gesamte Arbeit und die Sicherheit
der Gruppe gefährdet.
In
Szene 4 wird häufig lebendig darüber diskutiert, welches die aufschlussreichste
Person sei. Einerseits wird in der Regel der "Erste Textilarbeiter"
als besonders interessant hervorgehoben, da er alles tue, um die weitere
politische Arbeit trotz der Repression zu ermöglichen. Bis zu seiner Aufforderung
an den jungen Genossen wegzulaufen, damit dieser an anderer Stelle unerkannt
die politische Aufklärungsarbeit fortsetzen könne, sei die Aktion gelungen,
heißt es: Schließlich seien die Flugblätter in Umlauf gebracht worden,
die Obrigkeit konnte durch geschicktes Lavieren hingehalten werden. Das
unbeherrschte Verhalten des jungen Genossen habe jedoch die Situation
eskalieren lassen, alle Beteiligten in Gefahr gebracht und das politische
Ziel in die Ferne rücken lassen: "Er hatte ein kleines Unrecht verhindert,
aber das große Unrecht, der Streikbruch, ging weiter." (DM, 648)
Trotz seines
agitatorischen 'Murxismus' wird aber auch der junge Genosse gelegentlich
für die bedeutendste Figur der Szene gehalten, da er zwar den Kopf verliere,
aber doch den Mut habe, gegen strategische Erwägungen den Finger direkt
in die Wunde des Unrechts zu legen. Schließlich sei gerade der Verweis
auf taktische Überlegungen nur allzu häufig der Vorwand für politische
Feigheit.
Andere halten
im Sinne der Brecht'schen Illusionslosigkeit den Polizisten für die aufschlussreichste
Figur, da er im Gegensatz zum naiven jungen Genossen sehr 'wissend' ist.
"Ich
bin ein Polizist und bekomme von den Herrschenden mein Brot dafür, daß
ich die Unzufriedenheit bekämpfe." (645)
Der junge
Genosse glaube, so führen viele an, mit der herrschenden Klasse über Verbrechen
diskutieren zu können, während der Polizist die Situation pragmatisch
durchschaue und analysiere und seinen persönlichen Nutzen aus den bestehenden
Machtverhältnissen ziehe. Trotz seines zweckrationalen Verhaltens braucht
aber auch der Polizist mit einer ideologisch plausiblen Rechtfertigung
seines Handelns, da er behauptet, die Unzufriedenheit zu bekämpfen, letztlich
aber nur den Aufstand und die Menschen bekämpft.
Zusammenfassend
bleibt festzuhalten, dass die Erkenntnis nicht fortlaufend mit einer Figur
verbunden ist, sondern sich im Zusammenspiel mehrerer Figuren einstellt,
das heißt das Kollektiv der Figurenkonstellation bleibt Quelle und Maßstab
der Erkenntnis. Bei aller Radikalität der "Maßnahme" werden die textimmanenten
Widersprüche, die Brecht keineswegs auf dem Niveau eines Parteiprogramms
nivelliert, sondern bewusst evoziert, gerne übersehen. So kommt der Chor
beispielsweise keineswegs zu dem Schluss, die von den vier Agitatoren
getroffene Maßnahme als einzige mögliche und sinnvolle Lösung der gefährlichen
Situation abzusegnen. Im Gegenteil: Er benennt ausdrücklich mehrere Verhaltensweisen
als notwendige Voraussetzung für die aufrichtige, zielführende politische
Praxis. Einerseits
betont er die Bedeutung der solidarischen Gemeinschaftsaktion als Voraussetzung
für die politische Arbeit:
"Gehe
nicht ohne uns den richtigen Weg
Ohne uns ist er
Der falscheste.
Trenne dich nicht von uns!
Wir können irren und du kannst recht haben, also
Trenne dich nicht von uns!" (656)
Für die Veränderung
ungerechter gesellschaftlicher Verhältnisse bedarf es aber nicht nur der
Beachtung strategischer Prinzipien, sondern gerade des Zusammenspiels
zwischen Dynamik und Reflexion, wie sie in der Schluss-Sequenz vom Kontrollchor
angemahnt wird:
"Euer
Bericht zeigt uns, wieviel
Nötig ist, die Welt zu verändern:
Zorn und Zähigkeit, Wissen und Empörung
Schnelles Eingreifen, tiefes Bedenken
Kaltes Dulden, endloses Beharren
Begreifen des Einzelnen und Begreifen des Ganzen:
Nur belehrt von der Wirklichkeit, können wir
Die Wirklichkeit ändern." (663)
Diese
Sequenz torpediert in keiner Weise jedwede Menschlichkeit, sie fordert
sie geradezu ein, indem sie den Finger in die politische Gesinnungswunde
legt: Nicht eine einmal definierte Entscheidung wird zum Kriterium für
richtiges Handeln, sondern ausschließlich die Methode permanenter Kritik
und Analyse der bestehenden Verhältnisse, was die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel
voraussetzt. Der dialektisch-erzieherische Impetus der "Maßnahme"
konnte in der Praxis nicht entfaltet werden. Der Uraufführung 1930 in
Deutschland durch Arbeiterchöre und Laiendarsteller folgten acht weitere
Aufführungen mit überarbeiteten Textfassungen, deren letzte im Januar
1933 noch während der Premiere von einem nationalsozialistischen Polizeipräsidenten
verboten wurde. Danach gaben Brecht und Hanns Eisler, der die "Maßnahme"
musikalisch bearbeitet hatte, nie wieder ihre Einwilligung zu einer Aufführung.
Auf die Anfrage des Kammertheaters Uppsala 1956 antwortete Brecht:
"Die
Massnahme ist nicht für Zuschauer geschrieben worden, sondern für die
Belehrung der Aufführenden. Aufführungen vor Publikum rufen erfahrungsgemäß
nichts als moralische Affekte für gewöhnlich minderer Art beim Publikum
hervor. Ich gebe daher das Stück seit langem nicht für Aufführungen
frei."
Brechts Aufführungsverbot
provozierte seitens der Kritiker die Unterstellung, der Autor habe die
Minderwertigkeit der Maßnahme im Vergleich zu seinen späteren reiferen
Stücken eingesehen und jede weitere Rezeption einschränken wollen. Im
Horizont der oben skizzierten Lehrstückkonzeption schimmert im Aufführungsverbot
Brechts dialektische Süffisanz hervor: Sein Verdikt unterstützt demnach
die Forderung, das Lehrstück "Die Maßnahme" nicht vor Publikum als
sinnliche Abendunterhaltung zu spielen, sondern es im Spiel durch das
Publikum wirken zu lassen.
Die Maßnahme
- so Brecht selbst in seiner oben formulierten Begründung - sei für die
Belehrung der Aufführenden geschrieben worden. Verboten wäre demnach die
Aufführung vor und für das Publikum, nicht aber durch das Publikum. Brecht
nannte in einem Gespräch mit Manfred Wekwerth die "Maßnahme" noch
kurz vor seinem Tod als Beispiel für ein Stück, dessen Form für die Zukunft
des Theaters entscheidende Bedeutung habe - keine Spur einer Distanzierung
des Autors von seinem umstrittenen Lehrstück.
Literatur:
Knopf, Jan (Hrsg.): Brecht Handbuch Bd. 1: Stücke. Stuttgart/Weimar 2001,
S. 253-266 und zu den Lehrstücken allgemein bes. S. 28-38.
Krabiel, Klaus-Dieter: Brechts Lehrstücke. Entstehung und Entwicklung
eines Spieltyps. Stuttgart/Weimar 1993.
Rasch, William: Theories of the Partisan. Die Maßnahme and the Politics
of Revolution. In: Brecht Yearbook 24 (1999), S. 331-343.
Steinweg, Rainer: Das Lehrstück. Brechts Theorie einer politisch-ästhetischen
Erziehung. Kiel 1969.
Steinweg, Rainer: Bertolt Brecht. Die Maßnahme. Kommentierte kritische
Ausgabe. Frankfurt a.M. 1972.
Steinweg, Rainer: Lehrstück und episches Theater. Brechts Theorie und
die theaterpädagogische Praxis. Frankfurt a.M. 1995.
Benedikt
Descourvières
© TourLiteratur
/ Autor
Alle Rechte vorbehalten
Benedikt
Descourvières, Jahrgang 1968, Dr. phil., ist u.a. Verfasser des
Buches
"Utopie des Lesens. Eine Theorie kritischen Lesens auf der Grundlage
der Ideologietheorie Louis Althussers. Dargestellt an Texten Georg Büchners,
Theodor Fontanes, Ödön von Horváths und Heiner Müllers."
St. Augustin: Gardez! Verlag 1999. (= GiG. Germanistik im Gardez! Bd.
6.)
Mehr zu Benedikt
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Buchcover
(von oben nach unten):
1) Brecht, Bertolt: Die Maßnahme. Zwei Fassungen. Anmerkungen. Frankfurt/Main:
Edition Suhrkamp 2000.
2) [Brecht, Bertolt]: beim Photographen. München: Verlag G. Kehayoff
1997.
3) Völker, Klaus: Brecht-Chronik. Daten zu Leben und Werk. München:
dtv 1997.
4) Häntzschel, Hiltrud: Brechts Frauen. Reinbek: Rowohlt Verlag 2002.
5) Lahann, Birgit: Auf Bertolt Brechts Spuren. Eine Bildreise. Hamburg:
Verlag Ellert & Richter 1999.
6) Kesting, Marianne: Bertolt Brecht. In Selbstzeugnissen und Bilddokumenten.
Reinbek: Rowohlt Verlag (rororo bildmonographien. 37.) 1975.
7) Hayman, Ronald: Bertolt Brecht. Der unbequeme Klassiker. München:
Heyne Verlag 1998.
8) Brecht, Bertolt: Frühe Stücke. Baal/Trommeln in der Nacht/Im
Dickicht der Städte. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag (Taschenbuch).
Weiterführende
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Eine
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