Literaturtheorie > New Historicism (Stephen Greenblatt) |
Möglichkeiten
literarhistorischen Arbeitens Ein eigenst�ndiges, ausschlie�lich auf sich selbst bezogenes literarhistorisches Interesse - das dann in letzter Konsequenz zum Selbstzweck gerinnt - kann heute kaum �berzeugend konstatiert werden. Es geht, wie Wolfgang Haubrichs in seiner Einleitung zum Themenband "Literatur als historischer Proze�" der "Zeitschrift f�r Literaturwissenschaft und Linguistik" bereits 1978 formulierte, um den "m�gliche[n] Ort der Literaturgeschichtsschreibung" [1], um ihre thematische Bestimmung, ihre Funktionalit�t, um die Charakterisierung ihres Gegenstandes. Dabei oszilliert eben diese Charakterisierung zwischen den Polen einer Gegenstandsbestimmung von 'Literatur als Kunst', gegen�ber der Literarhistorie "den obliquen Charakter einer hermeneutischen Hilfswissenschaft" besitze, und 'Literatur als Kultur', gegen�ber der Literaturgeschichte in den weiteren Rahmen allgemeiner Kulturgeschichte und Geschichte" trete, "deren Interessen und Kategorien sie dann teilt". [2] Haubrichs betont nachgerade den 'Doppelcharakter' der Kategorie 'Literatur': Sie ist sowohl "Kunstph�nomen" als auch "Sozialgeste" bzw. Kulturzeugin; Literaturgeschichtsschreibung kann sich von daher nicht auf nur einen Aspekt versteifen, etwa auf eine vage und geradezu mystifizierende Sichtweise von Literatur, die deren 'Eigentlichkeit' vor sozio-kulturell orientierten Zugriffen sch�tzen zu m�ssen glaubt. Der nicht selten ge�bte "hermeneutische Monismus", so Haubrichs, sei zugunsten einer fundamentalen Bestimmung von Literaturgeschichte im Sinne von "Literatur als historischer Proze�" abzuweisen. Es gehe letztlich um die "Rekonstruktion der Kommunikation mit Texten und des intersubjektiven Handlungszusammenhangs, in dem ein Text entsteht und fortw�hrend rezipiert wird". [3] Im engen Anschluss an die Aufforderung, Literatur in ihrer historischen Prozesshaftigkeit zu begreifen, sind besonders in den letzten zwanzig Jahren Forderungen nach einer neuen kulturhistorischen Funktionsbestimmung von Literarhistorie laut geworden. Bedenkt man, so Eberhard L�mmert 1986,
Das hier angedeutete "politisch wie anthropologisch signifikante Ineinanderwirken von Literatur, Kultur und Gesellschaft" [5] findet seine wohl konsequenteste Fortf�hrung in dem seit den fr�hen achtziger Jahren zum Durchbruch gelangten "New Historicism", der vor allem mit dem Namen des amerikanischen Literaturwissenschaftlers Stephen Greenblatt verbunden ist. Ohne hier auf alle Details seines Ansatzes - den Greenblatt selbst im �brigen nur mit �u�erster Zur�ckhaltung formuliert - eingehen zu k�nnen, sei doch auf das konstitutive Moment seiner �berlegungen hingewiesen. Es handelt sich um den Versuch einer Aufhebung, oder besser: Umgehung der traditionellen Text-Kontext-Opposition, die literarische �u�erungen auf einen zumeist starr fixierten historischen Hintergund bezieht. Greenblatt geht es um die Aufl�sung der hierarchischen Struktur von Text und Kontext, um eine 'Aufwertung' des 'Hintergrundes' mittels einer Textualisierung des Kontextes. Dadurch wird eine Ebenengleichheit beider Schichten erzielt, die es letzthin erm�glichen soll, die sozio�konomischen, gesellschaftlichen und kulturellen Praktiken aufzudecken, die sich in literarische Texte, sei's offen, sei's verdeckt, eingenistet haben. Auch Greenblatt kommt es auf die Rekonstruktion des geschichtlichen Kontextes an, er fragt allerdings nicht nach Abh�ngigkeiten, sondern nach "Verhandlungen" ("negotiations"), nach "Zirkulation" ("circulation") und nach "Tausch" ("exchange") von Texten und Kontexten resp. von Texten und kulturellen Praktiken. [6] Dies hat eine v�llig modifizierte Fragestellung an Literatur zur Folge; es gilt zu entdecken,
F�r die analytische Praxis, mithin f�r den Gesamtkomplex der Literaturgeschichtsschreibung hat dies sp�rbare - und nicht selten kritisierte - Konsequenzen: Der Linearit�t traditioneller Literarhistorie und deren Pr�sentation wird eine Darstellung entgegengesetzt, die bewusst die Momente des Nicht-Systematischen, des Anekdotischen, des Widerspr�chlichen und des Diskontinuierlichen hervorhebt. Vereinheitlichende Erkl�rungsmodelle und Pr�sentationsweisen werden zugunsten ungeordneter Heterogenit�t und Pluralit�t aufgegeben, die "assoziative Montage", die "kulturgeschichtliche Momentaufnahme" tritt an die Stelle der linear organisierten Erz�hlung. [8] Basis dieser neuen Literarhistoriographie ist eine radikale Interdisziplinarit�t, die sowohl literarische als auch nicht-literarische, kanonisierte wie stigmatisierte Texte miteinschlie�t. Mittels einer "Vernetzung mit anderen gleichzeitig entstandenen Dokumenten" werden die literarischen Texte rekontextualisiert, "so da� sie wieder mit jenen Bedeutungen aufgeladen werden, die durch die unvermeidliche selektive �berlieferung verloren gegangen sind". [9] Impulsgebende Folge dieser auf Interdisziplinarit�t gr�ndenden "poetics of culture" ist eine Aufwertung des literarisch scheinbar Marginalen, das als Untersuchungsgegenstand im Sinne des New Historicism eine ebenso wichtige Rolle bei der Aufdeckung "jene[r] kulturellen Praktiken" spielt, "in deren Spannungsfeld Literatur entsteht" [10], wie dies den nobilitierten Texten zu unterstellen ist. Die kurzen Bemerkungen zum New Historicism Greenblattscher Pr�gung sollten das M�glichkeitsspektrum literarhistorischen Arbeitens wenigstens andeutungsweise skizzieren. Das Produktivitäts- und Innovationspotenzial des New Historicism zeigt sich dort, wo er um mentalitätsgeschichtliche, kultursoziologische und zivilisationstheoretische Aspekte bereichert wird. Die Verknüpfung des kulturwissenschaftlichen Ansatzes Stephen Greenblatts mit Implikationen der Zivilisationstheorie (Norbert Elias), der Kultursoziologie (Pierre Bourdieu) und der Mentalitätsgeschichte kann dazu beitragen, "zu vermeiden, daß die Textwelten in einer anachronistischen Weise rekonstruiert werden, die eher unsere eigenen Vorstellungen und Verhaltensformen reflektiert als solche der Entstehungszeit" [11]. Die Inanspruchnahme
der genannten Ansätze resultiert dabei keineswegs aus einem oftmals
beschworenen - und verurteilten - disziplin�ren Unbehagen des Literaturwissenschaftlers
gegen�ber seinem Fach und seinem spezifischen Gegenstand 'Literatur':
Die kulturwissenschaftliche Orientierung bedeutet keine Flucht in vorgeblich
wenig reflektierte "programmatische 'Als'-Metamorphosen" [12]
(-Literaturwissenschaft als Sozialgeschichte, als Ideologiegeschichte,
als Mentalit�tsgeschichte und eben als Kulturgeschichte
-), sondern ist vielmehr Ausdruck der Erkenntnis, "da� 'Kulturwissenschaft'
einen ver�nderten Kontext aller mit Kultur befa�ten Wissenschaften bedeutet,
in dem Literaturwissenschaft sich nicht aufl�st oder preisgibt, sondern
auf den bezogen und nicht gegen ihn Literaturwissenschaft sich definiert"
[13]. Kulturwissenschaft kann letztlich, so
Graevenitz, als der "pluralistische Kontext f�r die Selbstreflexivit�t
einer pluralistischen Literaturwissenschaft" aufgefasst werden "und
nicht als der ungleiche Gegenpart in einer verfehlten Konfrontation".
[14] Holger Dauer ©
TourLiteratur / Autor Zwei
Buchtipps: Anmerkungen [1] Haubrichs, Wolfgang: Einleitung. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik [LiLi] 8 (1978) H. 32: Literatur als historischer Proze�. S. 7. [zur�ck] [2] Zitate: Anz, Heinrich: Geschichte und Literaturgeschichte. Bemerkungen zu den Kategorien der Literaturgeschichtsschreibung. In: Geist und Zeichen. Festschrift f�r Arthur Henkel. Zu seinem 60. Geburtstag dargebracht von Freunden und Sch�lern und hrsg. v. Herbert Anton, Bernhard Gajek u. Peter Pfaff. Heidelberg 1977. S. 27. [zur�ck] [3] Alle Zitate: Haubrichs, Wolfgang: Einleitung. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik [LiLi] 8 (1978) H. 32: Literatur als historischer Proze�. S. 8. [zur�ck] [4] L�mmert, Eberhard: Die Geisteswissenschaft in der Hochschulpolitik des letzten Jahrzehnts. In: Germanistik - Forschungsstand und Perspektiven. Hrsg. v. Georg St�tzel. 2. Teil. Berlin u. New York 1986. S. 20. [zur�ck] [5] Kaes, Anton: New Historicism: Literaturgeschichte im Zeichen der Postmoderne? In: Geschichte als Literatur. Formen und Grenzen der Repr�sentation von Vergangenheit. Hrsg. v. Hartmut Eggert, Ulrich Profitlich u. Klaus R. Scherpe. Stuttgart 1990. S. 56. [zur�ck] [6] Vgl. hierzu beispielsweise Stephen Greenblatts Aufsatz: Grundz�ge einer Poetik der Kultur. In: Ders.: Schmutzige Riten. Betrachtungen zwischen Weltbildern. Aus dem Amerikanischen v. Jeremy Gaines. Frankfurt/M. 1995. (= Fischer Wissenschaft. 12507.), bes. S. 111 und S. 115f. [zur�ck] [7] Greenblatt, Stephen: Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance. Aus dem Amerikanischen v. Robin Cackett. Frankfurt/M. 1993. (= Fischer Literaturwissenschaft. 11001.) S. 14. [zur�ck] [8] Zitate: Kaes, Anton: New Historicism: Literaturgeschichte im Zeichen der Postmoderne? In: Geschichte als Literatur. Formen und Grenzen der Repr�sentation von Vergangenheit. Hrsg. v. Hartmut Eggert, Ulrich Profitlich u. Klaus R. Scherpe. Stuttgart 1990. S. 64 bzw. S. 63. [zur�ck] [9] Kaes, Anton: New Historicism: Literaturgeschichte im Zeichen der Postmoderne? In: Geschichte als Literatur. Formen und Grenzen der Repr�sentation von Vergangenheit. Hrsg. v. Hartmut Eggert, Ulrich Profitlich u. Klaus R. Scherpe. Stuttgart 1990. S. 63. [zur�ck] [10] Kaes, Anton: New Historicism: Literaturgeschichte im Zeichen der Postmoderne? In: Geschichte als Literatur. Formen und Grenzen der Repr�sentation von Vergangenheit. Hrsg. v. Hartmut Eggert, Ulrich Profitlich u. Klaus R. Scherpe. Stuttgart 1990. S. 63. [zur�ck] [11] Dörner, Andreas u. Ludgera Vogt: Kultursoziologie (Bourdieu - mentalitätsgeschichte - Zivilisationstheorie). In: Neue Literaturtheorien. Eine Einführung. Hrsg. v. Klaus-Michael Bogdal. Opladen 1990. (= WV studium. 156.) S. 145. [zur�ck] [12] Haug, Walter: Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft? In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte [DVjs] 73 (1999) S. 69. [zur�ck] [13] Graevenitz, Gerhart v.: Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaften. Eine Erwiderung. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte [DVjs] 73 (1999) S. 96. [zur�ck] [14] Graevenitz, Gerhart v.: Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaften. Eine Erwiderung. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte [DVjs] 73 (1999) S. 98. [zur�ck] |